Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
tatsächlich überhaupt keine Familie mehr hatte. Mir war immer bewusst gewesen, dass es für Menschen (andere Menschen) völlig normal ist, überall im Land und sogar in anderen Ländern Generationen von Verwandten zu haben. Und dass ich diese Frau auf dem Foto nicht mit Mrs. Peterson in Verbindung brachte, lag daran, weil dieses Abbild Millionen Meilen weit von dem Bild entfernt war, das ich mir im Geiste von Mrs. Peterson gemacht hatte. Mir war nicht in den Sinn gekommen, dass Mr. und Mrs. Peterson einmal jung gewesen waren. Außerdem sah das Foto überhaupt nicht aus wie ein altes Foto. Mit ihrem kurzen Haar und dem schräg gelegten Kopf wirkte Mrs. Peterson überaus modern.
Wie sich herausstellte, war das Foto 1970 während einer Antikriegsdemonstration in Washington, D. C., gemacht worden, ein paar Jahre, nachdem Mr. Peterson mit einem verkrüppelten Bein und dem Purple Heart aus Vietnam zurückgekehrt war. Das Purple Heart ist ein Orden, den amerikanische Soldaten bekommen, die sich bei der Arbeit verletzt haben, und den Mr. Peterson nicht mehr besaß, weil er ihn von einer Klippe in Oregon aus in den Pazifischen Ozean geworfen hatte. Mrs. Peterson, die damals noch nicht Mrs. Peterson war, war mit einem Studentenvisum in die Vereinigten Staaten von Amerika eingereist. 1971 wurde sie ausgewiesen, und Mr. Peterson entschied sich, sie zu begleiten. Er hatte genug von seinem Land.
Der Grund, warum er dieses Bild behalten und aufgehängt hatte – und nur dieses eine Bild – war folgender: Dieses Bild war das genaue Gegenteil seiner letzten Erinnerung an seine Frau – kurz vor ihrem Tod, als sie all ihre Haare und die Hälfte ihres Körpergewichts verloren hatte und sterbend im Krankenhaus lag. Dieses Foto zeigte sie, wie er sie im Gedächtnis behalten wollte.
Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass Mrs. Peterson keine Kinder bekommen konnte wegen eines Problems mit ihren Eileitern, was ein weiterer Grund war, warum meine ursprüngliche Frage bezüglich des Fotos so fehl am Platz gewesen war. Aber natürlich erfuhr ich all das erst viel später. Zu diesem Zeitpunkt sagte mir Mr. Peterson lediglich, dass das Foto seine Frau zeigte. Darauf folgte ein unbehagliches Schweigen, währenddessen ich mit den Füßen scharrte und nicht wusste, was ich sagen sollte.
Schließlich zog ich ein Buch aus dem Regal. Ich hatte das Bedürfnis, meine Hände mit irgendetwas zu beschäftigen.
Unglücklicherweise sahen sich meine Hände und Augen mit drei Paar Brüsten an drei fast völlig nackten Frauen konfrontiert. Die Frauen trugen sehr knappe weiße, durchsichtige Gewänder. Ich nahm die Farbe von Roter Bete an. Meine Mutter hatte mir stets versichert, dass an der nackten menschlichen Gestalt nichts Peinliches oder Furchterregendes sei. Aber ich war mir da nicht so sicher. Man konnte ihre Nippel sehen.
Ich richtete meine Augen etwa zehn Zentimeter nördlich. Das Buch hieß Die Sirenen des Titan . Es war eins von Mr. Petersons Kurt-Vonnegut-Büchern, das ich aus dem dritten Fach des Regals gezogen hatte, wo mindestens noch fünfzehn oder zwanzig andere standen, alle ordentlich nebeneinander.
»Das ist ein komischer Titel für ein Buch«, sagte ich und schluckte den Kloß im Hals herunter. »Werden diese Frauen verhaftet?«
Mr. Peterson erklärte, er hätte in drei Teufels Namen keine Ahnung, wovon ich spräche.
»Sie haben nicht viel an«, stellte ich klar.
»Na und?«, sagte er ratlos.
»Ich dachte, die Sirenen würden deswegen heulen.«
Mr. Peterson runzelte die Stirn.
»Ich glaube, man wird verhaftet, wenn man in der Öffentlichkeit nicht genug anhat.«
Mr. Peterson schien ein Licht aufzugehen. »Nein, Junge. Keine Polizeisirenen. Sirenen wie bei Homer.«
»Simpson?«, fragte ich verwirrt.
»Die Odyssee !«
Ich schaute ihn verständnislos an. Irgendwann, vor etwa einer halben Minute, hatten wir aufgehört, dieselbe Sprache zu sprechen.
Mr. Peterson seufzte und rieb sich die faltige Stirn. »Die Odyssee ist eine sehr alte griechische Geschichte, geschrieben von einem sehr alten Griechen namens Homer. Und in der Odyssee gibt es diese sehr schönen Frauen, die man Sirenen nennt. Sie leben auf einer Insel im Mittelmeer und sind verantwortlich für viele untergegangene Schiffe. Sie singen verzauberte Lieder, mit denen sie die Seeleute in ihr Verderben locken.«
»Ach so«, sagte ich. »Also sind die Frauen die Sirenen? Und deshalb haben sie so wenig an?«
»Richtig. Aber in Kurt Vonneguts Buch leben die Sirenen
Weitere Kostenlose Bücher