Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
hatten sich die Naturgesetze gegen das Zeitreisen verschworen und machten es praktisch – und physikalisch – unmöglich. John Blessed war der Meinung, dass »Zeit – was immer das auch sein mag – sicher nicht das ist, wofür wir es halten«. Damit befand er sich in guter Gesellschaft: Nicht nur Kurt Vonnegut dachte so, sondern beispielsweise auch Stephen Hawking. John Blessed meinte, wenn Physiker erst die Weltformel – auch Theorie von Allem genannt – entwickelt hätten, dann würden solche Konzepte wie Raum und Zeit ihre allumfassende Bedeutung verlieren. Obwohl sie auf einer alltäglichen Ebene immer noch von Nutzen sein könnten, beim Einkaufen etwa oder wenn man sich verabredet.
Natürlich kam das Meiste davon nicht bei unserem ersten Telefonat zur Sprache. Damals sprach ich nicht direkt mit John Blessed, sondern mit seiner Frau. Sie sagte Folgendes: »Bitte entschuldigen Sie, Mr. Woods, aber seit wir Ihren Aushang am Schwarzen Brett gesehen haben, lässt eine Frage meinem Mann keine Ruhe mehr. Ich kann es nicht mehr länger mit ansehen, wie er sich quält. Er möchte gerne wissen, ob Sie der Alex Woods sind.«
Einen Moment lang wusste ich nicht, was sie meinte. Dann ging mir ein Licht auf.
»Es ist sehr gut möglich, dass ich der Alex Woods bin«, sagte ich vorsichtig, »aber das kommt ganz darauf an, welchen Alex Woods Ihr Mann meint.«
Barbara Blessed räusperte sich. »Es ist lächerlich, ich weiß, aber mein Mann erinnerte sich daran, dass Alex Woods der Name jenes Jungen ist, der von dem Wells-Meteor getroffen wurde. Sie erinnern sich vielleicht an die Geschichte; die Zeitungen haben wochenlang darüber berichtet. Aber ich habe ihm gesagt, selbst wenn er mit der Namensgleichheit recht hat, Sie …«
»Ja, das bin ich«, fiel ich ihr ins Wort.
Am Telefon blieb es still. Ich hörte, wie die Blesseds sich im Hintergrund besprachen. Dann war Mrs. Blessed wieder am Apparat. »Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel, aber wie alt sind Sie, Alex?«
»Ich bin fast fünfzehn«, sagte ich, »aber für mein Alter ein sehr reifer Leser.« Das war kein Witz, aber trotzdem lachte Barbara Blessed schallend.
Dann schrieb ich mir Barbara Blesseds E-Mail-Adresse auf und versprach ihr, Bescheid zu geben, wenn ein Termin für unser erstes Treffen feststehen würde. Ich versprach ebenfalls, meinen Eisen-Nickel-Meteoriten mitzubringen.
Ein paar Tage später rekrutierte ich in Glastonbury in der Bücherei meine zweite Bibliothekarin. Sophie Haynes war fünfundfünfzig Jahre alt und ruhiger als ihre Kolleginnen. Sie hatte grafitfarbene Haare, und sie trug immer knöchellange Röcke oder Kleider anstatt Hosen, was ihrem Gang etwas Schwebendes verlieh. Sie liebte anspruchsvolle Kreuzworträtsel für Querdenker und William Blake; beides hatte ich eines Nachmittags herausgefunden, während sie ihre Teepause machte und ich auf einem der weich gepolsterten Stühle im Lesesaal saß und mir eine Biografie von Emily Dickinson anschaute. William Blake war ebenfalls ein toter Dichter und Maler, der ein sehr berühmtes Gedicht über Tiger geschrieben hatte.
Tiger, Tiger, hell entfacht
In den Waldungen der Nacht:
Welches Gottes Aug und Hand
Nur dein furchtbar Gleichmaß band?
Mir gefiel das Gedicht sehr gut. Als mir Sophie Haynes die Zeilen zum ersten Mal zeigte, verstand ich die ganze Bedeutung nicht sofort, aber die Worte ließen mein Herz ein bisschen schneller schlagen, und das hieß – so meinte sie jedenfalls –, dass ich es schon ziemlich gut begriff. Der Tiger hat Klauen und ein Maul, mit dem er einen Menschen zerteilen kann, so wie ich eine Banane schäle, und in William Blakes Augen war es fast unmöglich, eine solche Existenz mit einem wohlmeinenden Schöpfer in Einklang zu bringen. Sophie Haynes lenkte meine Aufmerksamkeit auf den letzten Vers:
Als die Sterne Speere schossen
Und Tränen in den Himmel gossen,
sah lächelnd Er Sein Werk vor Sich?
Schuf er, der auch das Lamm schuf, dich?
Das verstand ich. Im Gegenzug las ich Sophie Haynes ein Zitat aus Frühstück für Helden vor, wo Kurt Vonnegut ähnliche Bedenken bezüglich einer Klapperschlange äußert: »Der Schöpfer des Universums hatte eine Klapper an ihrem Schwanz angebracht. Der Schöpfer hatte ihr auch Vorderzähne gegeben, die Spritzen zur subkutanen Injektion von Gift waren. – Manchmal muss ich mich schon über den Schöpfer des Universums wundern.«
Wegen dieses Gesprächs wusste ich, dass der »säkulare« Aspekt meiner Lesegruppe
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