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Das Ungeheuer von Florenz

Das Ungeheuer von Florenz

Titel: Das Ungeheuer von Florenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Magdalen Nabb
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Die Straße, auf der er danach weiterfahren mußte, lag sowieso auf der Seite. Er zweigte auf gut Glück ab, ließ sein Auto ausrollen und stieg aus, um sich das weiße Haus auf der anderen Straßenseite genau anzusehen. Als eine Lücke im Verkehr es ihm erlaubte, überquerte er die Straße. Eigentlich war das gar nicht nötig. Das Haus trug eine weithin sichtbare Hausnummer und war durch die Außenbeleuchtung sowieso eindeutig erkennbar. Doch er konnte nicht anders. Er brauchte das Haus, nicht seine Nummer. Er brauchte die Wirklichkeit, das Konkrete. Er hatte keine Ahnung, ob die Familie Rossini noch dort wohnte, aber das war ihm auch gleichgültig. Er wollte nur mit jemandem sprechen, egal, mit wem, wollte einen menschlichen Kontakt mit einer mehr als zwanzig Jahre alten Geschichte knüpfen.
    Die grünen Fensterläden der Nummer 154 waren geschlossen. Aus der 154A spähte eine Frau durch eine dichte Spitzengardine. In 152, der anderen Hälfte des Gebäudes, war eine Trattoria untergebracht. Dort fegte eine ältere Frau die Treppenstufen, und die letzten Gäste des Mittagsgeschäfts stiegen auf dem Schlackenplatz neben dem weißgetünchten Gebäude in ihre Autos ein. »Guten Tag.«
    Die Frau fegte weiter und schaute zu ihm hoch.
    »Wir haben geschlossen. Es ist nach halb drei.«
    »Ist schon recht. Ich wollte nur etwas fragen. Die unbefestigte Straße, die dort drüben abzweigt… Wenn ich mich nicht irre, ist das eine Abkürzung nach Signa. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr hiergewesen, und manchmal ist sie bestimmt unpassierbar. Ich dachte, wenn Sie hier wohnen, wüßten Sie vielleicht…«
    Sie hatte ihm nach dem Hinweis auf die Schließzeit des Lokals kaum noch Beachtung geschenkt, nun jedoch preßte sie die Lippen aufeinander, ließ ihren Besen ruhen und schaute ihn an.
    »Sie kommen durch.«
    »Vielen Dank.«
    »Keine Ursache.«
    Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick, kehrte ihm den Rücken zu und fegte weiter. Beim Einsteigen ins Auto sah er, daß sie ihn beobachtete, vom Seiteneingang zu ihm herübersah, wohl meinte, er könne sie nicht sehen. Er merkte, wie sich auch die Spitzengardine leicht bewegte, und er spürte die funkelnden Augen einer alten Frau auf sich ruhen, als er den Motor anließ. Die Augen waren alt genug, um sich an die Geschichte zu erinnern. Vielleicht hielt man ihn für einen neugierigen Journalisten. Vielleicht wurde er aber auch paranoid. Womöglich hielt man ihn für einen Steuerinspektor, und diese Frau wohnte hier vermutlich noch nicht so lange, daß sie sich an den Mord im Jahre 1968 erinnerte. Neben dem großen weißen Haus stand ein steinernes Bauernhaus mit drei Eingängen. In einem davon hatte Salvatore Angius gewohnt, und niemand war dem je nachgegangen. Aus welchem Grund? Warum hatte man an jenem Abend nicht an jede einzelne Tür dieses Hauses geklopft und gefragt: »Haben Sie ein kleines Kind gesehen, das allein die Straße überquert hat? Haben Sie einen Mann gesehen, der das Kind beobachtete?«
    Es war natürlich leicht, dieses Versäumnis aus dem zeitlichen Abstand zu kritisieren, und trotzdem war er sich sicher, daß er diese Fragen gestellt und deshalb diesen Angius gesehen und Silvanos Alibi schon damals erschüttert hätte anstatt sechzehn Jahre später.
    Die Frau mit dem Kehrbesen kam zur Vorderseite des weißen Hauses und schaute zu ihm herüber. Er bog auf die Landstraße ein und fuhr im zweiten Gang davon. Er war ein Narr. Er hätte Silvanos Alibi nicht erschüttert, denn Silvano hätte ein solches Alibi gar nicht präsentiert, wenn er sich nicht in Sicherheit gewähnt hätte. Angius hatte das Haus seines Bruders als Adresse angegeben, und noch bevor irgend jemand einen Gedanken auf diesen Umstand verschwenden konnte, hatte Sergio Muscas schon seine Version verändert, und alles stürzte sich auf Flavio.
    Die steinige Landstraße ließ sich recht gut befahren, da einige kleine Fabriken, kaum mehr als lange Schuppen, auf den Feldern errichtet worden waren. Von den Felsbrocken, die bewiesen hatten, daß das Kind nicht mit einem Auto gekommen sein konnte und daß es sich, wäre es zu Fuß gegangen, die Strümpfe zerrissen und beschmutzt hätte, war nichts zu sehen.
    Irgend etwas war nicht so, wie es sein sollte. Der Vingone, der doch hinter einer Wand aus hohem Schilf neben dem Weg verlaufen sollte, war ebenfalls nicht zu sehen. Zu seiner Rechten sah er in der Ferne eine Linie aus Schilf, aber die war nichts Halbes und nichts Ganzes, denn das Schilf sollte ja

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