Das Ungeheuer von Florenz
Nachricht nach Hause kam. Ich hatte dieses schreckliche Gefühl, das ich mir selber nie verziehen habe: Ich wollte, daß es vorbei ist. Das ist doch nicht normal. Irgend etwas stimmt wohl nicht bei mir.«
»Nein, so dürfen Sie das nicht sehen. Sie wußten ganz genau, wovor Sie Angst hatten. Das ist eine ganz natürliche Reaktion.«
»Meinen Sie?«
»Ich weiß es sogar. Ich bekam einmal einen Anruf, aus dem ich heraushörte, daß mein Sohn entführt worden sei. Ich hatte alles ganz falsch verstanden, doch in den ersten Sekunden spulte sich in meinem Kopf schon der ganze weitere Verlauf ab, von den Straßensperren bis zur Freilassung. Wenn Sie zurückdenken, werden Sie vielleicht feststellen, daß Sie ähnliche Gedanken hatten, wenn sie Moped fuhr. Haben Sie sich nicht ständig vorgestellt, daß sie einen Unfall haben könnte?«
Der Vater fixierte den Maresciallo mit seinen glanzlosen Augen in der Hoffnung, Erleichterung von seinem Elend zu finden, wie wenig auch immer.
»Sie haben recht… Wenn ich einen jungen Menschen auf der Trage ins Krankenhaus schob, hab ich mir immer vorgestellt, sie läge da. Und das halten Sie für normal?«
»Ja. Wenn man jemanden liebt, hat man ständig Angst um den, den man liebt, und um sich selbst, weil man damit fertigwerden muß, den Betreffenden zu verlieren. Wir alle haben solche Vorstellungen, und wenn etwas gut ausgeht, vergessen wir sie wieder. Nur geht es oft eben nicht gut aus, das wissen Sie und ich durch unsere Arbeit. Deswegen stellen wir uns wohl auch häufiger als andere Menschen das Schlimmste vor. Wir sehen es zu oft.«
Der Vater schwieg für einen Augenblick und betrachtete das Foto, die Asche seiner Zigarette fiel unbemerkt zu Boden. Dann wich die Spannung aus seinen Schultern.
»Ich danke Ihnen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das all die Jahre gequält hat.«
»Sie haben schon genug Kummer, da müssen Sie nicht noch selber Probleme hinzuerfinden. Eltern sind doch mehr oder weniger alle gleich. Jeder Ihrer Freunde hätte Ihnen das auch sagen können.«
»Ja, vielleicht, nur habe ich es niemandem gesagt. Ich habe mich ein bißchen geschämt. Keine Ahnung, warum ich Ihnen das erzählt habe.«
»Manchmal ist es leichter, wenn man mit einem Fremden spricht.«
Der Maresciallo zog ein kleines Päckchen aus seinem Paletot. »Vielleicht könnten Sie sich diese Sachen mal ansehen. Falls Sie sie wiedererkennen, würde das Ihrer Frau die Aufregung ersparen.«
Der Vater nahm das Päckchen in die Hand. »Sind das die Sachen, von denen am Telefon die Rede war?«
Kopfschüttelnd betrachtete er den Inhalt der Plastiktüte.
»Ich weiß nicht… Sie hat immer die goldene Kette umgehabt, die wir ihr zur Erstkommunion geschenkt haben. Sie hatte auch ein paar bunte Armreifen und solche Sachen, die sie im Sommer getragen hat. Nein, da werden Sie meine Frau fragen müssen. Es tut mir leid. Ich habe es ihr gesagt, aber ihr Gedächtnis ist nicht mehr, was es einmal war, und heute, am Samstag… Sie geht immer dorthin, wissen Sie, nimmt ein paar Blumen mit. Ich sehe das gar nicht gern, denn es regt sie nur auf, aber sie tut es nun mal. Ich lasse es aber nicht zu, daß sie im Dunkeln dort ist, um diese Zeit mache ich mich gewöhnlich auf den Weg und hole sie nach Hause. Aber ich habe ihr gesagt, daß Sie kommen.«
»Das macht doch nichts. Wenn Sie zu Fuß hingehen, ist es wohl nicht so weit?«
»Fünf Minuten.«
»Dann begleite ich Sie. Ich muß ihr ja bloß die Gegenstände zeigen.«
Der Maresciallo nahm das kleine Päckchen wieder an sich und steckte es ein. »Ich werde sie nur einen kurzen Moment aufhalten. Ich möchte sie nicht aufregen.«
»Es wird sicher nicht so schlimm. Sie nimmt in letzter Zeit nicht allzuviel wahr. Ich hole meinen Mantel.«
Das Grau des Winternachmittags ging allmählich in die Abenddämmerung über. Metallene Rolläden wurden einer nach dem anderen hochgezogen, die Läden öffneten wieder, und die Lampen wurden eingeschaltet. Als sie zur Tür hinaus auf die Straße traten, trug ein Gemüsehändler eine Kiste Orangen mit glänzenden Blättern hinaus und stellte sie auf einen Verkaufsstand vor dem Schaufenster. Als er seinen Nachbarn mit dem Maresciallo sah, blieb er stehen und sagte: »Stimmt es, was man hört? Haben Sie diesmal wirklich den Richtigen gefaßt?«
Der Maresciallo gab keine Antwort, und der Mann neben ihm zuckte nur mit den Schultern. Er selbst hatte diese Frage nicht einmal gestellt. Nach so vielen Jahren und so vielen
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