Das Ungeheuer von Florenz
sich allein haben, Männer und Frauen. Er wollte keine Nebenbuhler. Nicolino spricht nie mehr von ihm, und zwar aus Furcht, davon bin ich überzeugt. Nicolino hat Silvano in jener Nacht gesehen, im Schilf, oder zumindest gespürt, daß er da war.«
»Ja, daran erinnere ich mich.«
»Ach? Er erinnert sich nämlich nicht mehr daran, oder zumindest behauptet er das. In den achtziger Jahren sind wir mit ihm an den Tatort gefahren, wissen Sie. Er muß damals um die zwanzig gewesen sein. Es war ein warmer Tag, und wir standen genau dort, wo es passiert war, warteten auf das, was er sagen würde, hätten ihm zu gern einen kleinen Schubs gegeben, wagten es aber nicht. Er stand lange dort, und dann schüttelte er den Kopf.
›Ich weiß nicht… Ich erinnere mich an gar nichts.‹ Er sah direkt zu der Straße nach Pistoia hinüber. Wir konnten ja nicht wissen, ob er sich wirklich nicht mehr erinnerte oder ob er nur nichts sagen wollte. Er ist ziemlich zurückgeblieben, wissen Sie, und solche Leute sind am schwersten einzuschätzen. Dann kam ein leichter Wind auf, und das Schilf bewegte sich. Es war trocken und raschelte.
›Ich hab ihre Hand angefaßt.‹ Es war, als sei irgend etwas in ihm in Gang gekommen. Ich dachte gleich, daß es an dem Schilf lag, und ich hatte recht. Hinterher hat er etwas in dem Sinne gesagt.
›Ich hab ihre Hand angefaßt, und sie ist zwischen den beiden Sitzen runtergesackt. Hinten war das Fenster offen, und ich bin rausgeklettert und losgerannt. Ich hab geschrien und geschrien, und da war eine Stimme im Schilf… irgend jemand… Dann sind wir weggegangen, und sie haben zu mir gesagt: Vergiß nicht zu sagen, daß dein Vater krank ist und im Bett liegt. Vergiß es nicht… Ich weiß nicht mehr, wo sie mich stehengelassen haben. Ich weiß nur noch, daß ich über die Hauptstraße gerannt bin, weil ich mich so gefreut habe, das große Licht zu sehen.‹ Mehr konnte er uns nicht sagen, und ich glaube, er wollte uns wirklich helfen, als Kind hatte er ja wahrlich genug auszustehen gehabt. Niemand aus der Familie wollte ihn haben, genausowenig wie Sergio, den wollte auch niemand haben, als er aus dem Gefängnis kam. Vermutlich hatten sie alle genug von den Schwierigkeiten, in die Silvano sie gebracht hatte. Sie wußten, daß der Junge von ihm war, und sie wollten nicht, daß herauskommt, wie die Beziehung zwischen Sergio und Silvano in Wirklichkeit war.
Deshalb ist aus Nicolino nichts Rechtes geworden, er war unerwünscht, und Sergio ist in dem Wohnheim für ehemalige Strafgefangene gestorben.«
»Er ist was?«
»Oh, ja, er ist tot. Das wird erst bekanntgegeben, wenn sie mit dem Fall weiter sind. Niemand will, daß die Vargius- Geschichte jetzt wieder hochkommt. Klar, oder? Wer ist überhaupt der dritte? Ach ja, Amelio. Er hat uns mehr geholfen, aber er wußte auch mehr. Er hat uns von den Orgien erzählt, die sich in der Wohnung abspielten, als er noch klein war – seine Mutter, Silvanos Ex-Frau, hat es auch bestätigt. Sie wachte in der Nacht auf und fand zwei Männer bei sich im Bett vor, Silvano plus seinen neuesten Freund. Später waren es dann Silvano plus der Freund plus die Frau des Freundes, und wenn sie nicht mitmachen wollte, hat er sie windelweich geprügelt. Ein- oder zweimal hat das Kind versucht, seiner Mutter beizustehen, aber da erging es ihm wie ihr.«
»Warum hat sie ihn denn nicht verlassen?«
Der Maresciallo war immer ein wenig skeptisch, wenn er Geschichten über Frauen hörte, die sich eine solche Behandlung jahrelang gefallen ließen.
»Sie hat's versucht. 1974 ist sie nach Sardinien zu ihren Eltern zurückgegangen, aber dort war nichts außer Armut und Arbeitslosigkeit, da haben die Eltern sie zu ihrem Mann zurückgeschickt. Wie man sich bettet, so liegt man, nach der Devise etwa. 1980 ist sie dann endgültig auf und davon, aber als er wegen des Mordes an seiner ersten Frau verhaftet wurde, ist sie wieder in die Wohnung eingezogen. Unsere Theorie ist, daß er 1974 und dann noch einmal in den achtziger Jahren nur deshalb straffällig wurde, weil sie ihn verlassen hatte. Und sein Sohn ging ja ebenfalls fort, 1975 war das. Nicolino zog zu Flavio, und das ging überhaupt nicht gut. Die Brüder waren deswegen wie Hund und Katze, und das war vermutlich der Grund, weswegen der Junge später ganz von hier weg und für ein paar Jahre zur Schwester seiner Mutter in den Norden gegangen ist. Dies, obwohl seine Stiefmutter sich bemüht hatte, ihm eine Mutter zu sein, aber das Leben
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