Das Ungeheuer von Florenz
das Alibi, so wacklig es war, nie in die Brüche gegangen.«
»Aber was war mit der Familie der toten Frau?«
»Ja, die Familie. Die Frau war erst neunzehn, wissen Sie, Margherita hieß sie. Ich bin sicher, ihre Mutter wußte, was geschehen war, aber gesagt hat sie nie etwas. Sie hatte eine Tochter verloren, und nichts konnte sie ihr zurückbringen. Wenn die Wahrheit herausgekommen wäre, hätte sie ihren Sohn ebenfalls verloren. Außerdem hatte sie natürlich wie alle anderen Angst vor Silvano. Dazu noch die Schande, falls die Sache mit der Homosexualität herausgekommen wäre. Sie hätten aus dem Dorf wegziehen müssen, aber sie hatten Land dort. Nein, nein, um nichts in der Welt hätte sie damals geredet, und um nichts in der Welt hätte sie in den achtziger Jahren geredet, als so viele Menschen mit der berühmten Pistole ermordet wurden – die übrigens ihrem Bruder gehörte und die verschwand, als Silvano aus dem Dorf fortging. Wir hatten ihr Telefon angezapft, da sie bei uns nicht den Mund aufmachte. Jeden Tag hat sie mit ihrer anderen Tochter telefoniert, die in der Nähe von Como wohnte – die Tochter, zu der Amelio ging, als er von Silvano abgehauen war. Ich habe Ihnen die Abhörprotokolle mitgebracht. Ich hab sie selbst von Hand abgeschrieben, den Durchschlag behalte ich. Ich hoffe, Sie können meine Handschrift lesen…«
Der Maresciallo rollte den Packen Blätter auf. Die Kugelschreiberschrift war ein bißchen ins Bräunlichblaue verblaßt.
»Ich glaube schon.«
Er probierte es aber nicht gleich aus. »Aber warum? Wenn er die Frau und das Kind brauchte, um eine Fassade aufrechtzuerhalten, warum hat er seine Frau dann getötet? Hatte sie einen anderen?«
»Ja, aber das war nicht der Grund – dieser andere Mann hieß übrigens interessanterweise Amelio. Es wundert mich, daß Silvano ihr das durchgehen ließ, denn dieser Amelio galt vorher als ihr Zukünftiger, doch dann wurde sie gezwungen, Silvano zu heiraten. Diese kleine Episode finden Sie auch bei den Sachen, die ich Ihnen mitgebracht habe. Die Frau hat sich vor ihrem Tod zwar wieder mit ihm getroffen, aber das war trotzdem nicht der Grund. Der eigentliche Auslöser war, daß sie ihn verlassen wollte, zwar nicht dieses anderen Mannes wegen, sondern weil sie das Leben, das sie führte, halb verhungert und regelmäßig von diesem Ungeheuer von sogenanntem Ehemann geschlagen, einfach satt hatte. Sie hatte sich entschieden und sich um den Job einer Wirtschaftsleiterin in einem Waisenhaus beworben, wo sie auch hätte wohnen und ihr Kind hätte mitbringen können. Die Busfahrkarte hatte sie schon gekauft. Am nächsten Tag wollte sie fahren.
Heute kann uns dazu natürlich niemand mehr etwas sagen, aber es gibt gute Gründe anzunehmen, daß Silvano sie ständig zwang, an der Sexualakrobatik mit ihrem Bruder teilzunehmen, und sie kaltmachte, als sie aussteigen wollte.
1968 war die Konstellation genauso, als Belinda Muscas aus dem Dreiecksverhältnis zwischen Belinda, Sergio und Silvano rauswollte und die gleiche Strafe erhielt. Wahrscheinlich hat er sich sogar damit gebrüstet, als er den Mord von 1968 vorbereitete. Immerhin hatte Sergio ja ausgesagt: ›Als er damals in Sardinien seine Frau umbrachte, hat er das Kind auch verschont.‹ Das konnte ihm ja nur Silvano selbst erzählt haben. 1974 will seine neue Frau weg von ihm, da regen sich wieder Mordgelüste. Und als sie 1980 wirklich abhaut, bricht die Hölle los. Verstehen Sie jetzt, was ich sagen will?«
Den Maresciallo beschäftigte jedoch unablässig die Frage, warum Silvano, wenn er keine Skrupel hatte, sowohl seine erste Frau als auch Belinda zu töten, weil sie es wagten, ihn zu verlassen, dann nicht auch seine zweite Frau ermordet hatte. Statt dessen hatte er vierzehn Fremde umgebracht, und zwar mit einer Pistole, deren Spur zu ihm zurückführte. Der Maresciallo war klug genug, das nicht auszusprechen, aber offenbar sah er nicht überzeugt aus.
»Können Sie mir nicht folgen?«
»Oh, doch, ich… Ich staune nur, wie leicht er mit alledem durchgekommen ist. Um das zu schaffen, muß man sehr clever sein.«
»Sie dürfen nicht vergessen, daß er eines immer geheimhielt: seine Homosexualität. Wenn man das nicht weiß, käme man nie auf die Idee, ihn zu verdächtigen.«
»Da haben Sie recht.«
»In meinen Notizen werden Sie einen Namen mit Adresse und Telefonnummer finden. Den von Margheritas jüngerer Schwester, die heute in der Nähe von Como lebt. Sie wird Ihnen sagen, wer Silvano
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