Das Ungeheuer von Florenz
die Fahrbahn gezogen werden. Sie könnten dabei schwer verletzt werden. Ich habe oft genug gesehen, wie so etwas passiert, bitte denken Sie daran.«
»Ich werde es nicht vergessen. Obwohl ich nicht glaube, daß ich mit diesen Händen noch irgend etwas festhalten kann.«
Traurig betrachtete sie die bleichen, deformierten Gelenke, als seien sie etwas, was nicht zu ihr gehöre. »Ach, als ich jung war, da war alles noch anders… Ich will trotzdem versuchen, daran zu denken… Ich könnte schwören, daß ich nur einen Zwanzigtausender und ein bißchen Wechselgeld hatte – und es war in meinem Portemonnaie, und das ist ja nun weg. Na, mein Gedächtnis ist auch nicht mehr, was es einmal war.«
»Vielleicht waren Sie mit den Gedanken woanders, als Sie den Schein einsteckten. Schön, ich muß jetzt gehen. Sie denken dran, keine Handtasche mehr mitzunehmen?«
»Oh, ja sicher…«
Dem Maresciallo war klar, daß sie es bereits vergessen hatte. »Ich überlege gerade, ob meine Tochter mir den Schein in die Tasche gesteckt haben könnte, als sie mich letzten Monat besucht hat. Sie wohnt jetzt in Rom, wissen Sie.«
»Ja.«
An der Tür rückte er seine Mütze zurecht, ging hinaus und ließ ihr diesen angenehmen, wenn auch unzutreffenden Gedanken.
Der Maresciallo ging durch die Via Romana zurück und setzte seine Schritte mit Bedacht, damit die Leute, die zum Einkaufen unterwegs waren, an ihm vorüberkonnten, ohne daß er immer wieder auf die Fahrbahn ausweichen mußte, wo von hinten dröhnend orangefarbene Busse angerollt kamen. An der Kreuzung der Piazza San Felice spürte er nur zu deutlich die Verlockung, in der hellerleuchteten Drogerie eine Pause einzulegen, zumal gerade niemand Schlange stand und der Drogist hofhielt und mit ein paar Leuten aus dem Viertel an einem Tisch saß. Der Maresciallo zögerte, als der Mann in dem weißen Kittel ihn mit erhobener Hand grüßte, doch dann erwiderte er, innerlich seufzend, den Gruß und ging weiter zur Piazza Pitti, wo die dicke Akte zum Fall des »Monsters« auf ihn wartete. Zufällig warteten auch noch einige andere Dinge und Menschen auf ihn, und um halb neun Uhr abends lag die Akte immer noch geschlossen auf seinem Tisch. Er hätte sie lieber nicht nach Hause mitgenommen, doch nach dem Abendessen ins Büro zurückkehren zu müssen war eine so trübselige Aussicht, daß er, bevor er das Licht ausschaltete und absperrte, sich die Akte unter den Arm klemmte.
»Was hast du denn da?« fragte Teresa, als sie den Kühlschrank aufmachte, ohne wirklich hinzusehen.
»Nichts.«
»Steh nicht hier herum. Gehst du nicht duschen?«
Er ließ die Akte im Schlafzimmer liegen, wo die Jungs sie nicht sehen konnten, ging unter die Dusche und zog sich um. Teresa schickte die Jungs ihre Hausaufgaben machen, und während sie die Teller in die Geschirrspülmaschine einräumte, fragte sie: »Wie bist du vorangekommen?«
»Es war nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte.«
»Ist es nie.«
Er erzählte ihr von dem jungen Bacci, den sie nie kennengelernt hatte, weil sie damals noch in Sizilien gewesen war.
»Aber ist er nicht noch ein bißchen zu jung und zu unerfahren für einen so großen Fall?«
»Dann wird er eben jetzt Erfahrungen sammeln«, erwiderte er mürrisch, weil er nicht zugeben wollte, daß ihm diese Frage auch schon durch den Kopf gegangen war. »Jedenfalls freut er sich wie ein kleines Kind. Er wollte schon immer gern Ermittlungsbeamter sein.«
Er stand auf. »Ich brauche einen Kaffee.«
»Aber du trinkst doch sonst nie Kaffee nach dem Abendessen.«
»Ich muß wach bleiben, noch ein paar Akten durchsehen. Ich mach welchen.«
»Dann bring ich mal die Jungs auf Trab.«
Während er wartete, bis der Kaffee brodelte, holte er sich die Akte und legte sie auf den Küchentisch. Er war ein wenig bedrückt, doch das lag nicht an dem Fall. Der Grund für seine Niedergeschlagenheit wurde ihm klar, als er sich den Kaffee einschenkte und sich niederließ. Allein in der Küche zu sitzen und Akten vor sich liegen zu haben erinnerte ihn zu stark an die schlimmen alten Zeiten, bevor Teresa mit den Kindern nach Florenz gekommen war. Erst der Tod seiner Mutter, die nach einem Schlaganfall von Teresa gepflegt worden war, hatte ihm seine Familie zurückgegeben. Das war das einzige Mal gewesen, daß er ganz allein lebte, und jede Minute davon war ihm zuwider. Und – das war es – das Gespräch über die Zeit mit Bacci auf dem Revier erinnerte ihn noch stärker daran. Zum Glück war Teresa nun
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