Das Ungeheuer von Florenz
ja nun nicht. Du bist übermüdet. Und daß du solche Sachen vergißt, liegt auch daran. Hast du wenigstens was Anständiges gegessen?«
Sie hatte ihm verziehen. Sie führten ein sehr nettes, ausführliches Gespräch in der zwischen ihnen üblichen Art: Teresa sprach, und er – steuerte die Antworten bei, wie sie es immer ausdrückte. Widerstrebend sagte er ihr gute Nacht und faßte dann einen Entschluß. Er würde die verdammte Akte mit ins Bett nehmen, und wenn er darüber einschliefe, hätte er eben Pech gehabt. Juristensprache war ebenso wirkungsvoll wie Schlaftabletten, und zumindest hätte er dann ein reines Gewissen. Er hätte sein möglichstes getan.
Doch er hatte sich geirrt. Zum einen war der Text in einer nicht speziell juristischen Sprache abgefaßt, aus der sogar persönliche Anteilnahme herauszuhören war. Zum zweiten schläferte ihn, was er las, nicht ein, sondern hielt ihn die ganze Nacht über wach. Und als er im Morgengrauen dann doch einschlief, die Papiere rings um sein Bett auf dem Boden verstreut, so nur, um die Bilder, die bei der Lektüre in seinem Kopf entstanden waren, im Traum wieder vor sich zu sehen. Das passierte ihm oft, wenn ein Fall, an dem er gerade arbeitete, ihn aufwühlte. Dieser Fall hatte sich vor mehr als zwanzig Jahren ereignet, doch der Zorn und die Enttäuschung, die er Untersuchungsrichter Romola, dem Verfasser des Berichts, bereitete, klang in jeder Zeile an.
9
TEIL EINS 1968
1.1. Entdeckung eines Doppelmords Am 22. August 1968 um 2 Uhr nachts hört Renzo Rossini, wohnhaft Via Torrente 154A, San Felice, Gemeinde Campi Bisenzio, wiederholtes Läuten an seiner Haustür. Er geht nach unten, beugt sich aus dem Fenster im Erdgeschoß und sieht einen kleinen, etwa sechs oder sieben Jahre alten Jungen, der zu ihm sagt: »Lassen Sie mich rein, ich bin müde, und mein Vater liegt im Bett und ist krank. Bringen Sie mich nach Hause? Meine Mama und mein Onkel sind nämlich tot im Auto.«
Nachdem er seine Verblüffung überwunden hat, holt Rossini den Jungen ins Haus und fragt ihn nach seinem Namen. Der Junge sagt, er heiße Nicolino und wohne in Lastra a Signa. Dann wiederholt er seine erste Angabe und fügt hinzu, daß sich das Auto auf der kleinen Straße befinde, die gegenüber Rossinis Haus abzweigt, und daß ein Licht am Auto blinke. Nicolino hat Shorts und ein T- Shirt an. Er trägt Strümpfe, aber keine Schuhe. Rossini fährt zum nächstgelegenen Revier und kehrt mit dem diensthabenden Carabiniere zurück. Gemeinsam fahren die drei im Auto die Straße entlang, die von Rossinis Haus durch die Felder nach Signa führt.
Sie kommen nicht weit, denn nach kurzer Wegstrecke ist die Straße durch Felsbrocken blockiert, und sie müssen umkehren.
Sie fahren nun von Rossinis Haus aus auf der Hauptstraße (der Fernverkehrsstraße zwischen Florenz und Pistoia) und versuchen die Nebenstraße, den Angaben des Kindes entsprechend, von der anderen Seite zu erreichen. »Wir sind ins Kino gegangen, und da war Krieg, da hat ein Haus gebrannt, und dann sind wir weitergefahren, am Friedhof vorbei.«
Ein kurzes Stück nach dem Friedhof gabelt sich die Straße, und ein paar Meter weiter zweigt rechts ein steiniger Pfad von der Landstraße ab, der dem Ufer des Vingone folgt, welcher rechter Hand liegt, zu dieser Jahreszeit jedoch durch hohes Schilf verdeckt ist. Wie sich bei späterer Untersuchung erweist, führt diese Nebenstraße nach ein oder zwei Kehren tatsächlich zur Straße nach Pistoia und endet direkt gegenüber Rossinis Haus.
Ungefähr fünfzig Meter nach der Abzweigung sehen sie das Heck eines Autos, dessen rechtes Blinklicht in Betrieb ist.
Sie leuchten mit einer Taschenlampe ins Innere des Wagens und finden dort die toten Körper eines Mannes und einer Frau vor.
Rundum ist kein Licht zu sehen, nicht einmal Mondlicht.
1.2. Tatort und Voruntersuchung der Opfer Beim Eintreffen am Tatort stellt der Carabiniere von Signa fest, daß die rechte hintere Wagentür offensteht, das Fenster der linken Vordertür ein paar Zentimeter weit und das Fenster der rechten Vordertür halb heruntergedreht ist.
Als sie die Fahrertür öffnen, fällt ein Herrenschuh heraus. Auf der rechten Seite, zwischen Türrahmen und Beifahrersitz, wo der Mann liegt, finden sie eine Damenhandtasche und ein Taschentuch.
Der männliche Tote liegt auf dem Rücken, da der Sitz bis auf die Rückbank heruntergeklappt ist. Er hält sich die Hose zusammen, die aufgeknöpft und deren Gürtel gelöst ist. An seiner
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