Das Ungeheuer von Florenz
Nachträgliche Einsicht war gut und schön, doch das ganze Kartenhaus war ja sowieso binnen Stunden in sich zusammengefallen, als Silvano Vargius Sergio gegenübergestellt wurde und seine Anschuldigungen hörte. »Ich will ihn nicht sehen.«
»Sie haben ihn beschuldigt. Sie werden ihn sehen müssen. Setzen Sie sich.«
»Ich möchte ein Glas Wasser.«
»Später. Setzen Sie sich.«
Als er sich gesetzt hatte, war die Tür ihm gegenüber aufgegangen und Silvano Vargius, gefolgt von einem Carabiniere, hereingekommen. Sofort war Sergio von seinem Stuhl aufgesprungen, vor Silvano auf die Knie gefallen und hatte zu schluchzen begonnen. Die Carabinieri hatten versucht, ihn auf die Füße zu stellen, doch er hatte Silvanos Beine umklammert und, während ihm Tränen übers Gesicht strömten, geschrien: »Gib nicht mir die Schuld, bitte! Ich wollte das nicht, sie sind schuld, sie haben mich geschlagen und mich ganz verwirrt. Flavio war es, das habe ich ihnen von Anfang an gesagt, aber sie wollten mir nicht glauben.«
Letztendlich hatten die Carabinieri ihn, der immer noch weinte, doch auf seinen Stuhl zurückgehievt. Als sie Silvano anschauten, stand der in aller Seelenruhe da und machte sich nicht einmal die Mühe, etwas auf die Anschuldigung zu erwidern, sondern wiederholte nur sein Alibi, daß er in einer Bar Billard gespielt habe, in welcher er und Angius, sein Freund, gut bekannt seien.
»Von meinem Bruder weiß ich nichts. Ich kann nicht sagen, wo er war.«
Danach hatte er gehen dürfen. Niemand hatte sich ernstlich überlegt, was ihn bewegen haben könnte, Sergio zu helfen, dessen eigene Frau umzubringen. Und Sergios tränenreiche Bitte um Verzeihung schien vollkommen absurd. Niemand hatte das Geschehen richtig verstanden, als Sergio vor Gericht gestellt und verurteilt wurde, und das war ja auch nicht verwunderlich. Nach dieser Gegenüberstellung hatte er so ziemlich jeden Liebhaber seiner Frau beschuldigt, und das ergab eine Liste, die so lang wie sein Arm war. Zuletzt kam Sergio wieder auf Flavio zurück und behauptete, daß dieser der Mörder sei. Überzeugende Motive konnte er allerdings nicht angeben, nicht einmal für sich selbst.
»Ich hatte es einfach satt, ich konnte es nicht mehr ertragen. Und es hat mich krank gemacht zu sehen, wie er vor meinen Augen meine Frau vögelt.«
»Hm.«
Flavio sollte also Sergios Komplize gewesen sein, aber was Flavios Motiv gewesen sein soll, blieb ein Rätsel.
»Ein Teil davon ist aber wahr, und das ist das Dilemma.« Der Maresciallo sprach diese unlogische Bemerkung laut vor sich hin, als er seinem Kopfkissen einen Schlag mit der Faust verpaßte und in den durcheinandergeratenen Blättern des Berichts die Stelle suchte, bis zu der er vorhin gekommen war. Das Dilemma bestand darin, daß eigentlich ja die falschen Teile einer Geschichte nicht zum Ganzen passen durften, hier waren es jedoch die richtigen Teile.
»Irgend etwas oder irgend jemand fehlt da. Wenn ich doch nur dabeigewesen wäre…«
Als er die Stelle wiedergefunden hatte, freute er sich, als er merkte, daß der Maresciallo, der am Tatort gewesen war, ein Mann nach seinem Geschmack war und etwas getan hatte, was er selbst auch getan hätte.
TEIL DREI 1968: Nicolino
3.1. Begleitumstände der Tat Am Tag nach dem Mord kehrt Nicolino mit dem Maresciallo von San Felice zum Schauplatz des Verbrechens zurück. Gemeinsam gehen sie zu Fuß vom Tatort zu der Straße nach Pistoia und zum Haus Rossinis, was ungefähr 50 Minuten dauert. Auf dem Weg weist der Maresciallo darauf hin, wie schwer begehbar die Straße mit den Steinen ist, über die sie klettern müssen. Er besteht darauf, daß Nicolino den Weg nicht ohne seine Schuhe zurückgelegt haben kann.
»Hör mal Nicolino, du siehst so gut wie ich, daß du unmöglich in Socken hier entlanggelaufen sein kannst. Vielleicht bist du auf einem anderen Weg gekommen.«
»Es war dieser Weg, und ich bin hier gelaufen.«
»Na schön, Nicolino, hör mal zu: Entweder du sagst mir jetzt die Wahrheit, oder wir gehen den Weg im Dunkeln noch einmal ohne Schuhe.«
»Nein. Mein Papa hat mich gebracht. Mein Papa hat mich gebracht, und er hat mich auf den Esel gesetzt!«
Zu diesem Zeitpunkt gelangen sie zu der kleinen Brücke, an der sich die Straße nach rechts und dann wieder nach links windet und anschließend gerade auf die Straße nach Pistoia und auf das Haus Rossinis zu führt, das ungefähr fünfzig Meter entfernt und deutlich zu sehen ist. An dieser Stelle bleibt der Kleine
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