Das Ungeheuer von Florenz
wurde die Sache erst im Jahre 1982, nach dem Mord von Montespertoli, als ein anonymer Brief den Richter aufforderte, die Gerichtsakten der Verhandlung gegen Sergio Muscas aus dem Jahre 1968 zu überprüfen. Es mußte als unglaublicher Glücksumstand angesehen werden, daß sich in der Akte eine mit Klebeband befestigte Hülle befand, welche die am Tatort sichergestellten Hülsen und Geschosse enthielt. Sie stammten von der Waffe des Ungeheuers, daran bestand kein Zweifel. Diese Spur war glücklicherweise gerade dann aufgetaucht, als man Elio Sassetti freilassen mußte, der verhaftet worden war, weil er über den Mord in Scandicci gesprochen hatte, als man die Mordopfer noch gar nicht gefunden hatte. Außerdem war sein Auto am Tatort gewesen, jemand hatte es gesehen.
»Und damit«, sagte der Maresciallo laut, während er einen Topf aus dem Schrank unter der Spüle holte, da der Kühlschrank immer noch nichts hergab, »hätte ich mich auch nicht zufriedengegeben. Es wurde also ein weiterer Mord verübt, während er noch drin war, folglich kann er es nicht gewesen sein – aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sein Auto in jener Nacht in Scandicci war und daß er davon wußte. Er könnte den Mord gesehen haben. Na gut…«
Wenn er nicht reden wollte, dann wollte er eben nicht. Wieder eine nachträgliche Einsicht. Trotzdem mußte es doch Mittel und Wege geben, herauszubekommen, warum er nicht reden wollte… Der Maresciallo ließ heißes Wasser in den Topf, was seine Frau stets mißbilligte, obwohl er nicht wußte, warum. Er zündete das Gas an und hatte inzwischen schon völlig vergessen, daß es nicht Abendbrotszeit war, sondern drei Uhr nachts. Er deckte sich einen Platz am Küchentisch und suchte im Schrank nach einem Glas Tomatensauce, die ihm seine Frau zubereitet hatte… »Außerdem war er ein Voyeur. Bei mir wäre er nicht so leicht davongekommen.«
Aber er war davongekommen, hatte vom Trubel um die neuen Ergebnisse im Zusammenhang mit der Mordwaffe von 1968 profitiert. Alle waren wieder hinter Sergio Muscas her. Aber man konnte doch nicht einfach außer acht lassen, was als Tatsache bereits erhärtet war – Sassettis Auto, das gesehen wurde, und daß er von dem Mord wußte –, bloß weil eine neue, interessantere Theorie auftauchte. Man mußte beides verbinden. Und das war der Fehler bei der Ermittlung von 1968: Die wahren Tatsachen paßten nicht zusammen, deshalb wurden sie beiseite gelassen. Dasselbe 1982 noch einmal. Alle gingen davon aus, daß Sergio die Wahrheit gesagt, daß er einen Komplizen gehabt hatte. Klar hatte er.
Er besaß ja weder ein Auto noch eine Waffe. Aber dann mußte man den Zusammenhang zwischen diesem Komplizen und Elio Sassetti herstellen, man konnte letzteren nicht einfach aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen.
»Mist!«
Er bespritzte sich, als die Tomaten im Topf auf das heiße Öl und den Knoblauch trafen. In dem Teil der Akte, den er gerade gelesen hatte, war ja nicht einmal verzeichnet, daß Elio Sassetti und Flavio Vargius – von Sergio Muscas hartnäckig als sein Komplize bezeichnet – im gleichen Dorf wohnten und beide Voyeure waren, vielleicht gar zu einer Bande gehörten. Irgend etwas war hier faul, mußte faul sein. Sergio war inzwischen aus dem Gefängnis entlassen worden und lebte in einer Unterkunft für ehemalige Strafgefangene oben im Norden. Niemand verdächtigte ihn der Morde in Florenz, das hatte man ihm sogar schriftlich gegeben. Aber er wollte immer noch nicht reden, den Schlüssel nicht liefern, mit dem die Polizei den Mordfall von 1968 knacken konnte.
Sergio, dachte der Maresciallo und rührte langsam die schimmernde Sauce um, hatte sich kein bißchen verändert, obwohl er seine Strafe abgesessen hatte und für ihn nun alles vorbei war.
»Flavio Vargius war es. Ich lag krank im Bett.«
»Wenn Sie krank im Bett lagen, wie können Sie dann wissen, daß es Flavio war?«
»Er war es, er hätte den Jungen umgebracht, wenn ich ihn beschuldigt hätte.«
»Aber Sie haben ihn doch beschuldigt. Jetzt beschuldigen Sie ihn wieder. Wer soll ihn denn jetzt daran hindern, Ihren Sohn zu töten? Warum beschuldigen Sie ihn jetzt?«
»Ich beschuldige ihn, weil er es getan hat.«
»Ist Ihnen klar, was Sie damit sagen? Begreifen Sie, daß mit der gleichen Waffe noch acht weitere Menschen getötet wurden?«
»Das können Sie mir nicht vorwerfen.«
»Niemand wirft Ihnen etwas vor. Acht Menschen sind ermordet worden. Wir wollen nur wissen, wem diese Waffe
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