Das Ungeheuer von Florenz
nein. Sie ist ganz blaß, und da dachte ich…«
Während seine Frau sprach, lichtete sich das Gewirr in seinem Kopf, und dem Maresciallo fiel das Dokument ein. Er war wohl beim Lesen im Wohnzimmer eingeschlafen. Er erinnerte sich daran, daß Papiere zu Boden geflattert waren, als er beim ersten Läuten des Telefons aus dem Sessel hochgefahren war.
Er war sich nicht sicher, ob er alles, was ihm nun allmählich einfiel, auch gelesen hatte, denn wahrscheinlich hatte er einen Teil davon auch geträumt, ganz sicher sogar – über Ferrini hatte er ja auch etwas gelesen, und das konnte nicht sein. Und noch etwas stimmte nicht, ganz am Ende. Etwas, das ganz dramatisch war und das er unbedingt hatte begreifen wollen, doch die Wörter waren ihm vor den müden Augen weggerutscht, und sosehr er sich auch zu konzentrieren versuchte, er hatte sie nicht lange genug anschauen können, um sie auch zu lesen.
»Ich dachte nur, um ganz sicherzugehen, sie sollte sich einmal gründlich untersuchen lassen, und wo ich einmal hier bin…«
»Aber ich dachte, du kommst morgen nach Hause.«
»Sie ist deine Schwester, Salva. Und ich bleibe ja auch nur ein paar Tage länger. Der Arzt hat gesagt…«
Dennoch war er fast überzeugt davon, daß er es wirklich gelesen hatte oder versucht hatte, es zu entziffern… Jetzt würde er Stunden brauchen, um die vielen Blätter wieder zu ordnen. Er beugte sich hinunter und sammelte, den Telefonhörer unter das Kinn geklemmt, so viele Blätter auf, wie er konnte.
»Es ist doch bestimmt die Leber«, sagte er. »Du weißt doch, wie gerne Nunziata ißt, und grad jetzt, zu Weihnachten…«
»Ja, ich weiß. Sie müßte eine Diät machen, obwohl man nicht weiß, was das nützt. Jemand anderem, dessen Namen ich nicht nennen will, täte das übrigens auch gut. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Was?«
»Ist bei dir alles in Ordnung? Du klingst ein bißchen abwesend.«
»Ich bin gerade erst aufgewacht. Wenn du morgen nicht nach Hause kommst, wann dann?«
Flavios Verhaftung. Daran erinnerte er sich. Er war noch einigermaßen wach gewesen, als er das gelesen hatte.
Er ließ das betreffende Blatt auf den Teppich fallen und breitete ein paar andere Blätter aus, um die Überschrift wiederzufinden, die er zuletzt gelesen hatte. Er war sich sicher, daß sich ihm eine Überschrift eingeprägt hatte, aber daß er den Text darunter nicht entziffern konnte. Hier war es… und dann war Ferrini aufgetaucht, also mußte er an dieser Stelle eingeschlafen sein. Er war nicht im eigentlichen Sinne aufgetaucht, aber er war dagewesen, in dem hohen Schilf, und das Kind hatte im Dunkeln die blasse Hand gehoben und auf etwas gezeigt.
»Da war ein Geräusch…«
»Schon gut. Ich bring dich nach Hause.«
»Trägst du mich huckepack?«
»Los geht's, hopp.«
Da war noch eine andere Stimme, und er spürte, wie die kleine Hand, ganz kalt vor Furcht, sich in seine Hand schob.
Er lief los, um das Kind nicht zu beunruhigen, doch es war ihm klar, daß er es in dieser totalen Finsternis nicht schaffen würde. Er wußte ja nicht einmal, wo der Kleine wohnte.
»Kommt meine Mama?«
»Nein, sie ist tot.«
»Kommt sie dann morgen?«
Er trug das Kind. Der Kleine war so schmächtig und durchgefroren, daß er fast nichts wog. Und warum weinte er nicht? Sie irrten in der Dunkelheit umher, als Ferrinis Stimme aus dem Schilf kam.
»Sie werden den richtigen Weg nie finden. Eine Seite fehlt.«
Eine Seite fehlte. Dann war es also nur ein Traum gewesen, ausgelöst dadurch, daß dem Maresciallo beim Einschlafen die Blätter aus der Hand gefallen waren.
»Ich mach mich mal auf den Weg.«
»Bist du sicher, daß mit dir alles in Ordnung ist, Salva?«
»Natürlich. Aber wenn ich jetzt nicht losgehe, komme ich zu spät. Außerdem habe ich noch keinen Kaffee getrunken.«
»Ach so, daran liegt es.«
»Ruf mich heute abend an. Und grüß die Jungs. Haben sie viel Spaß?«
»Bei denen ist alles in Ordnung, abends bleiben sie immer lange auf und schlafen dann schnell ein.«
Er spürte die kleine Hand in der seinen, kalt wie der Tod.
»Sag ihnen…«
»Was soll ich ihnen denn sagen?«
»Sagen ihnen… ach nichts, sag ihnen, sie sollen es genießen.«
Nach dem Auflegen blieb er noch eine Weile stehen und starrte aus großen Augen und mit leicht gerunzelter Stirn vor sich hin. Dann steuerte er auf das Schlafzimmer zu.
»Uff!«
Er war nicht dafür geschaffen, lange zu lesen. Er hätte sich besser mal richtig ausgeschlafen. Trotzdem sammelte
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