Das Ungeheuer
Jungen zurück. Die Artikel in der Zeitschrift waren ziemlich kompliziert. Victor fragte sich, wieviel sein Sohn davon verstehen mochte.
Er erwog, etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben. Der Junge war in Ordnung und völlig normal. »Bist du sicher, daß du heute mit ins Labor kommen möchtest?« fragte er.
»Vielleicht könntest du mit deinen Freunden etwas Spannenderes unternehmen.«
»Im Labor ist es spannend«, antwortete VJ.
»Deine Mutter findet, du solltest mehr Zeit mit Kindern deines Alters verbringen«, sagte Victor. »So lernt man, sich einzuordnen und zu teilen und all das.«
»Oh, bitte!« erwiderte VJ. »In der Schule bin ich jeden Tag mit Kindern meines Alters zusammen.«
»Zumindest wir beide sehen die Sache gleich«, meinte Victor. »Das habe ich deiner Mutter nämlich auch gesagt. Tja, nachdem das nun geklärt ist - wie möchtest du ins Labor kommen? Mit mir oder mit dem Fahrrad?«
»Mit dem Fahrrad«, antwortete VJ.
Trotz der frostigen Luft hatte Victor das Sonnendach seines Wagens geöffnet, und der Wind zerzauste ihm das Haar. Im Radio war der einzige Klassiksender eingestellt, den er bekommen konnte, und so donnerte er nun über die alte Brücke, die sich über den angeschwollenen Merrimack spannte. Der Fluß war ein Wildwasser voller Wirbel und Gischt, und sein Pegel stieg täglich dank der Frühjahrsschneeschmelze in den White Mountains von New Hampshire, hundert Meilen weiter nördlich.
Auf der Straße vor Chimera Inc. bog Victor nach links und fuhr an einem langgestreckten Ziegelbau entlang. Am Ende des Gebäudes bog er noch einmal links ab und verlangsamte sein Tempo, als er an einem Sicherheitskontrollposten vorbeikam. Der Uniformierte erkannte den Wagen und winkte nur, als Victor unter der geöffneten schwarz-weißen Schranke hindurch auf das Gelände der großen Biotechnologiefirma fuhr.
Wenn er den aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden, backsteingemauerten Fabrikkomplex betrat, erfüllte Victor jedesmal eine Art Besitzerstolz. Es war eine beeindruckende Anlage, zumal viele der Außenfassaden nicht renoviert, sondern restauriert worden waren.
Die höchsten Gebäude auf dem Gelände waren fünfstöckig, aber die meisten hatten nur drei Stockwerke, und sie erstreckten sich in beide Richtungen wie in einer Perspektivstudie. Rechteckig angelegt, umschlossen sie einen weiten Innenhof, der von zahlreichen neueren Gebäuden unterschiedlicher Größe und Form überzogen war.
An der Westecke des Geländes, das ganze Werk beherrschend, erhob sich ein achtstöckiger Uhrenturm, ein Nachbau des Big Ben in London. Er überragte die restlichen Bauten, denn er stand auf dem Dach eines dreistöckigen, teilweise auf einem den Merrimack stauenden Betondamm errichteten Gebäudes. Da der Fluß so stark angeschwollen war, hatte sich der Stausee auf der anderen Seite des Damms bis zum Überfließen gefüllt. Ein donnernder Wasserfall am Überlauf in der Mitte des Damms erfüllte die Luft mit feinem Dunst.
In alten Zeiten, als die Fabrik noch Baumwolle aus den Südstaaten in Textilien verwandelt hatte, war in dem Glockenturm das Kraftwerk gewesen. Der gesamte Komplex war mit Wasserkraft betrieben worden, bis die Elektrifizierung die Hauptschleuse geschlossen und das mächtige Schaufelradgetriebe im Keller des Gebäudes stillgelegt hatte. Die Big-Ben-Nachbildung läutete schon seit Jahren nicht mehr, aber Victor erwog, sie wieder instand setzen zu lassen.
Als Chimera den stillgelegten Komplex im Jahre 1976 erworben hatte, war weniger als die Hälfte der verfügbaren Fläche renoviert worden; der Rest war reserviert für zukünftige Expansion. In der Erwartung des Wachstums waren aber alle Gebäude mit Wasser, sanitären Anlagen und Strom ausgerüstet worden. Victor bezweifelte nicht, daß es ein leichtes sein würde, den alten Big Ben wieder in Gang zu bringen. Er nahm sich vor, das Thema bei der nächsten Sitzung des Entwicklungsausschusses anzusprechen.
Als Victor in seine reservierte Parkbox vor dem Verwaltungsgebäude eingebogen war und das Sonnendach geschlossen hatte, blieb er noch einen Moment sitzen und überdachte den vor ihm liegenden Tag. Bei allem Stolz, den die ausgedehnte Anlage in ihm hervorrief, mußte er zugeben, daß der Erfolg von Chimera Inc. ihn mit gemischten Gefühlen erfüllte. Im Grunde seines Herzens war Victor Wissenschaftler, aber als einer der drei Gründungspartner von Chimera Inc. hatte er auch seinen Teil der Verwaltungsverantwortung zu
Weitere Kostenlose Bücher