Das Ungeheuer
tragen.
Victor betrat das Gebäude durch den prachtvollen gregorianischen Eingang mit seinen Säulen und Giebeln. Die Architekten hatten bei den Restaurierungsarbeiten peinliche Sorgfalt walten lassen; selbst die Ausstattung stammte aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Die Eingangshalle war Welten entfernt von den zweckmäßigen Sälen des Massachusetts Institute of Technology, kurz MIT genannt, wo Victor 1973 unterrichtet und die ersten Gespräche mit einem Kollegen, Ronald Beekman, über die Möglichkeiten geführt hatte, die sich mit der explosionsartigen Entwicklung der Biotechnologie boten. Technisch gesehen war es eine gute Ehe, denn Victors Gebiet war die Biologie, und Ronald war Biochemiker. Sie hatten sich mit einem Geschäftsmann namens Clark Fitzsimmons Foster zusammengetan, und 1975 war Chimera Inc. gegründet worden. Das Ergebnis übertraf ihre kühnsten Erwartungen. 1983 war das Unternehmen, geführt von Clark, an die Börse gegangen, und sie waren ungeheuer reich geworden.
Aber mit dem Erfolg kam Verantwortung, die Victor von seiner ersten Liebe fernhielt: dem Labor. Als Gründungspartner gehörte er dem Vorstand der Muttergesellschaft Chimera an. Er war zudem als Erster Vizepräsident der Firma für die Forschung zuständig. Gleichzeitig war er geschäftsführender Leiter der entwicklungsbiologischen Abteilung. Und schließlich war er Präsident und Geschäftsführer der enorm ertragreichen Tochtergesellschaft Fertility Inc., die eine wachsende Kette von Kliniken zur Behandlung von Unfruchtbarkeit betrieb.
Victor blieb oben an der Haupttreppe stehen und schaute durch das Bogenfenster auf den ausgedehnten Fabrikkomplex hinaus, der hier zu neuem Leben erweckt worden war. Daß er dabei Befriedigung empfand, war nicht zu bezweifeln. Im neunzehnten Jahrhundert war die Fabrik sehr erfolgreich gewesen, aber ihre Basis war die Ausbeutung einer eingewanderten Arbeiterklasse gewesen. Heute stand ihr Erfolg auf festeren Füßen. Chimeras Fundament waren die Gesetze der Wissenschaft und der Erfindungsreichtum des menschlichen Geistes in seinem Bestreben, die Geheimnisse des Lebens zu entschlüsseln. Victor wußte, daß Naturwissenschaft in Form von Biochemie die Zukunftswelle war, und mit Wohlgefallen sah er, daß er sich in ihrem Epizentrum befand. In seinen Händen hielt er den Hebel, der die Welt, vielleicht das Universum aus den Angeln heben konnte.
VJ pfiff vor sich hin, als er die Stanhope Street hinunterradelte. Er hatte den Reißverschluß des Daunenparkas hochgezogen, um den kalten Wind abzuhalten, und seine Hände steckten in Fäustlingen, die mit der gleichen Isolierung ausgestattet waren, wie sie von Astronauten benutzt wurde.
Er schaltete in den höchsten Gang und trat in die Pedale. Der Wind rauschte und die Reifen sangen, als ob er mit hundert Meilen pro Stunde dahinschösse. Er war frei. Eine Woche lang keine Schule mehr. Keine Notwendigkeit mehr, sich vor den Lehrern und diesen Kindern zu verstellen. Er könnte seine Zeit mit dem verbringen, wozu er geboren war. Er lächelte - seltsam und unkindlich. Seine blauen Augen blitzten, und er war froh, daß seine Mutter ihn jetzt nicht sehen konnte. Er hatte eine Mission, genau wie sein Vater. Und er durfte sich durch nichts davon abbringen lassen.
VJ mußte sein Tempo verlangsamen, als er sich der Kleinstadt North Andover näherte. Er fuhr die Haupteinkaufsstraße hinauf und hielt vor der örtlichen Bank, wo er sein Rad in einen Metallständer schob und mit einem Schloß sicherte. Er warf sich die Satteltaschen über die Schultern, stieg die drei braunen Steinstufen hinauf und betrat das Gebäude.
»Guten Morgen, Mr. Frank!« sagte der Zweigstellenleiter und drehte sich mit seinem Drehstuhl herum. Der Mann hieß Harold Scott, und VJ ging ihm nach Möglichkeit aus dem Weg, aber da sein Tisch nun einmal gleich rechts vom Eingang stand, war das nicht so einfach. »Könnte ich dich wohl mal sprechen, junger Mann?«
VJ hielt inne, überdachte seine Möglichkeiten und machte widerstrebend den Umweg zu Scotts Schreibtisch.
»Ich weiß, daß du ein guter Kunde dieser Bank bist«, sagte Harold Scott. »Deshalb dachte ich mir, es wäre vielleicht angebracht, über einige der Vorteile dieser Bank mit dir zu sprechen. Weißt du, was Zinsen sind, junger Mann?«
»Ich glaube, ja.«
»Nun, in diesem Fall wollte ich fragen, weshalb du kein Sparbuch für dein Zeitungsgeld hast?«
»Zeitungsgeld?« wiederholte VJ.
»Ja«, sagte Harold. »Du hast mir vor
Weitere Kostenlose Bücher