Das Ungeheuer
zu haben glaubte, beobachtete Marsha neugierig ihren Sohn, der sich jetzt aus dem Wasser stemmte. Als ihre Blicke sich trafen, zwinkerte er ihr zu, und das verwirrte sie noch mehr.
VJ griff nach seinem Handtuch und trocknete sich rasch ab. Er wäre wirklich gern ein Sohn von der Art gewesen, die seine Mutter sich wünschte, wie David es gewesen war. Aber es steckte einfach nicht in ihm. Selbst wenn er versuchte, es vorzuspielen, wußte er, daß es ihm nicht ganz gelang. Immerhin - wenn Augenblicke wie dieser hier am Pool seinen Eltern das Gefühl von Familienglück schenkten, wer war er, daß er es ihnen verwehren wollte?
»Mutter, es tut noch mehr weh«, sagte Mark Murray zu Colette. Es war in seinem Zimmer im zweiten Stock des Murrayschen Stadthauses in Beacon Hill. »Immer wenn ich mich bewege, spüre ich einen Druck hinter den Augen und in den Nasennebenhöhlen.« Die präzise Ausdrucksweise stand in verblüffendem Kontrast zu den winzigen Kinderhändchen, die der Junge an seinen Kopf drückte.
»Ist es schlimmer als vor dem Essen?« fragte Colette und strich ihm das krausgelockte Blondhaar zurück. Das außergewöhnliche Vokabular des Kleinen erstaunte sie nicht mehr. Er lag in einem normalen Bett, obwohl er erst zweieinhalb Jahre alt war. Mit dreizehn Monaten hatte er verlangt, daß das Gitterbettchen in den Keller verbannt werde.
»Es ist viel schlimmer«, antwortete Mark.
»Laß uns noch einmal deine Temperatur messen!« sagte Colette und schob ihm das Thermometer in den Mund. Sie war zunehmend beunruhigt, obgleich sie sich noch immer damit zu beschwichtigen versuchte, daß es sich nur um eine beginnende Erkältung oder einen grippalen Infekt handle. Es hatte etwa eine Stunde, nachdem Mark von ihrem Mann Horace aus der Kindertagesstätte bei Chimera Inc. nach Hause gebracht worden war, angefangen. Mark hatte gesagt, er habe keinen Hunger, und das war bei Mark entschieden nicht normal.
Das nächste Symptom war das Schwitzen. Es begann, als sie sich gerade zu Tisch setzen wollten. Obwohl er seinen Eltern sagte, daß ihm nicht heiß sei, lief ihm der Schweiß in Strömen aus den Poren. Ein paar Minuten später hatte er sich übergeben. Da hatte Colette ihn ins Bett gesteckt.
Als Buchhalter, der schon am College zu empfindlich selbst für Biologie-Seminare gewesen war, hatte Horace die Krankenpflegerpflichten mit Vergnügen Colette überlassen - nicht, daß sie echte Erfahrungen damit gehabt hätte; sie war Rechtsanwältin, und ihre gutgehende Kanzlei hatte sie genötigt, Mark in die Kindertagesstätte zu geben, als er erst ein Jahr alt gewesen war. Sie betete ihr brillantes, einziges Kind an; aber es zu bekommen, war eine Strapaze gewesen, die sie nicht erwartet hatte.
Nach drei Jahren Ehe hatten sie und Horace beschlossen, eine Familie zu gründen. Aber nach einem Jahr der erfolglosen Bemühungen hatten sie sich beide einem Fruchtbarkeitstest unterzogen, und sie hatten die harte Wahrheit erfahren: Colette war unfruchtbar. Mark war das Ergebnis des letzten Mittels: In-vitro-Fertilisation und Leihmutter. Es war ein Alptraum gewesen, vor allem angesichts der durch den Fall »Baby M« hervorgerufenen Kontroverse.
Colette zog Mark das Thermometer aus dem Mund und drehte es zwischen den Fingern, um die Quecksilbersäule zu finden. Normal. Sie seufzte. Jetzt wußte sie nicht weiter. »Hast du Hunger oder Durst?« fragte sie.
Mark schüttelte den Kopf. »Ich kann allmählich nicht mehr gut sehen«, stellte er fest.
»Was heißt das, du kannst nicht mehr gut sehen?« Sie war erschrocken. Abwechselnd hielt sie Mark beide Augen zu. »Kannst du mit beiden Augen sehen?«
»Ja«, antwortete Mark. »Aber ein bißchen verschwommen. Unfokussiert.«
»Okay, du bleibst hier und ruhst dich aus!« sagte Colette. »Ich rede mit deinem Vater.«
Sie ließ das Kind allein und ging die Treppe hinunter; Horace hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und sah sich auf dem Mini-Fernseher ein Basketballspiel an.
Als er seine Frau in der Tür erblickte, schaltete er schuldbewußt ab. »Die Celtics«, sagte er erklärend.
Colette unterdrückte ihren flüchtigen Ärger. »Es geht ihm viel schlechter«, sagte sie heiser. »Ich mache mir Sorgen. Er klagt, er kann nicht gut sehen. Wir sollten den Arzt rufen.«
»Bist du sicher?« fragte Horace. »Es ist Sonntagabend.«
»Dafür kann ich nichts!« versetzte Colette scharf.
In diesem Moment gellte ein ohrenbetäubender Schrei durch das Haus. Sie stürzten die Treppe
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