Das Ungeheuer
waren sie weg gewesen.
»Nur drüben im Labor«, sagte Marsha. Es war sonst nicht VJs Art, irgend etwas zu merken, wenn sie nicht da waren. Er war sich selbst genug.
Der Junge sah Victor an. »Da war ein Anruf für dich. Ich soll dir ausrichten, daß die Sache unangenehm werden wird, wenn du es dir nicht noch einmal überlegst und vernünftig wirst.«
»Wer war es denn?« fragte Victor.
»Seinen Namen hat er mir nicht gesagt.«
»Ein Mann oder eine Frau?«
»Konnte ich nicht feststellen. Wer immer es war, er hat nicht in den Hörer gesprochen; so klang es zumindest.«
Marshas Blick ging zwischen Ehemann und Sohn hin und her. »Victor, was hat das zu bedeuten?«
»Büropolitik«, antwortete er. »Kein Grund zur Beunruhigung.«
Marsha sah VJ an. »Hat dir der Anruf angst gemacht? Wir haben bemerkt, daß alle Türen verriegelt waren.«
»Ein bißchen«, gab VJ zu. »Aber dann wurde mir klar, daß niemand anruft und eine solche Nachricht hinterläßt, wenn er die Absicht hat vorbeizukommen.«
»Da hast du wohl recht«, sagte Marsha. VJ hatte eine beeindruckende Art, eine Situation zu intellektualisieren. »Wollen wir nicht alle in die Küche gehen? Ich könnte einen Kräutertee brauchen.«
»Ich nicht, danke.« VJ war schon im Begriff, die Treppe wieder hinaufzulaufen.
»Sohn!« rief Victor.
VJ blieb auf der untersten Stufe stehen.
»Ich wollte dir nur sagen, daß wir morgen früh nach Boston in die Kinderklinik fahren. Ich möchte, daß sie dich dort untersuchen.«
»Ich brauche nicht untersucht zu werden«, beschwerte sich VJ. »Ich hasse Krankenhäuser.«
»Das verstehe ich«, sagte Victor. »Trotzdem wirst du dich untersuchen lassen, genau wie deine Mutter und ich es tun.«
VJ sah Marsha an. Gern hätte sie ihn in den Arm genommen und sich vergewissert, daß er keine Kopfschmerzen oder sonstige Symptome hatte. Aber sie blieb regungslos stehen, eingeschüchtert von ihrem eigenen Sohn.
»Mir fehlt doch nichts«, beharrte VJ.
»Das Thema ist erledigt«, sagte Victor. »Ende der Diskussion!«
Den Engelmund zusammengepreßt, funkelte VJ seinen Vater an. Dann wandte er sich ab und verschwand nach oben.
In der Küche setzte Marsha den Kessel auf. Sie wußte, es würde Tage dauern, bis sie sich bei dem, was sie heute abend erfahren hatte, über alle ihre Gefühle im klaren wäre. Sechzehn Jahre verheiratet, und jetzt fragte sie sich, ob sie ihren Mann überhaupt kannte.
Der Wind peitschte den Schnee ans Fenster, und der Rahmen klapperte. Marsha drehte sich um und spähte auf das digitale Zifferblatt des Radioweckers. Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht, und sie war immer noch hellwach. Neben sich hörte sie Victors rhythmisches Atmen.
Sie schwenkte die Füße über die Bettkante und tastete nach ihren Pantoffeln. Sie stand auf, nahm ihren Bademantel vom Stuhl in der Ecke, öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus.
Ein jäher Windstoß packte das Haus, und das alte Holzwerk ächzte. Sie überlegte, ob sie hinunter in ihr Arbeitszimmer gehen sollte, doch dann tappte sie den langen Korridor entlang zu VJs Zimmer. Sie drückte die Tür auf. VJ hatte sein Fenster einen Spaltbreit offengelassen, und der Wind zerrte an der Gardine. Marsha schlüpfte hinein und schob das Fenster lautlos herunter.
Dann schaute sie auf ihren schlafenden Sohn. Mit seinen blonden Locken und dem rosigen Gesicht sah er ganz und gar wie ein Engel aus. Sie mußte sich beherrschen, ihn nicht zu berühren. Seine Abneigung gegen jede Zärtlichkeit war so stark, daß es manchmal schwerfiel, sich ihn und David als Brüder vorzustellen. Sie fragte sich, ob diese Abneigung gegen Umarmungen und Schmusen irgend etwas damit zu tun hatte, daß Victor ihm fremde Gene eingepflanzt hatte. Wahrscheinlich würde sie es nie erfahren. Aber sie wußte jetzt, daß ihre alte Sorge um den Jungen ihren Grund in der Wirklichkeit hatte.
Sie nahm die Kleider von dem Stuhl neben VJs Bett und setzte sich. Als Säugling war er beinahe zu brav gewesen. Er hatte kaum geweint und fast jede Nacht durchgeschlafen. Zu ihrem Erstaunen hatte er schon mit wenigen Monaten angefangen, zu laufen.
Marsha erkannte, daß ihr begeisterter Stolz auf VJs Leistungen der Grund dafür gewesen war, daß sie sie nie in Frage gestellt hatte. Und gewiß hatte sie nicht den Verdacht gehabt, sie könnten künstlich gefördert worden sein. Jetzt sah sie, daß sie naiv gewesen war. VJs Intelligenz war mehr als genial. Sie erinnerte sich, wie ein französischer Wissenschaftler
Weitere Kostenlose Bücher