Das Ungeheuer
mit seiner Frau zu einem sechsmonatigen Aufenthalt nach Chimera gekommen war, als VJ gerade drei Jahre alt gewesen war. Ihre Tochter Michelle hatten sie in die Kindertagesstätte gebracht. Sie war fünf gewesen, und nach einer Woche hatte sie eine Anzahl englischer Sätze sagen können. Aber das Erstaunlichere war, daß VJ in derselben Zeit fließend Französisch sprechen gelernt hatte.
Und dann war sein dritter Geburtstag gekommen. Zur Feier des Tages hatte Marsha eine Überraschungsparty geplant und die meisten Kinder seines Alters aus dem Kinderhort dazu eingeladen. Als er am Samstag zum Mittagessen heruntergekommen war, hatte er ein Zimmer voll Mütter und Kinder vorgefunden, die allesamt »Happy Birthday!« geschrien hatten. Es war kein Erfolg geworden. VJ hatte Marsha beiseite genommen und gefragt: »Wieso lädst du diese Kinder ein? Ich muß mich jeden Tag mit denen plagen. Ich kann sie nicht leiden. Sie machen mich verrückt!«
Marsha war schockiert gewesen, aber gleichzeitig hatte sie sich gesagt, er sei schließlich soviel klüger als die anderen Kinder, daß es eine Strafe sei, ihn zum Umgang mit ihnen zu zwingen. Schon mit drei Jahren hatte VJ die Gesellschaft Erwachsener immer bevorzugt.
VJ drehte sich plötzlich um und murmelte etwas im Schlaf, und das holte Marsha zurück in die Gegenwart und zu all den Problemen, die sie so gern vergessen hätte. Er war ein so schönes Kind. Es war schwer, dieses unschuldig schlafende Gesicht mit der monströsen Wahrheit, die sie im Labor erfahren hatte, in Einklang zu bringen. Zumindest glaubte sie jetzt ein bißchen zu verstehen, weshalb er so kalt und gefühllos war. Vielleicht zeigte er deshalb so viele der Persönlichkeitsstörungen, die Jasper Lewis an den Tag legte. Wehmütig dachte sie, daß sie sich zumindest wegen ihrer Abwesenheit von zu Hause während VJs früher Kindheit keinen Vorwurf machen mußte.
Nun, solange Victor auf der neurologisch-medizinischen Untersuchung bestand, würde sie den Jungen einer Reihe von psychologischen Tests unterziehen. Schaden würde es ihm jedenfalls nicht.
6
Dienstag morgen
Sie fuhren mit zwei Autos nach Boston, da Victor anschließend gleich zu Chimera zurückkehren wollte. VJ zog es vor, mit Marsha zu fahren.
Die Fahrt an sich verlief ereignislos. Marsha versuchte, VJ zum Reden zu bringen, aber er beantwortete alle ihre Fragen mit einem knappen Ja oder Nein. Sie gab auf, bis sie nur noch wenige Minuten vom Kinderkrankenhaus entfernt waren.
»Hast du in letzter Zeit gelegentlich Kopfschmerzen?« fragte sie und brach damit das lange Schweigen.
»Nein«, antwortete VJ. »Mir geht's prima, das sage ich doch. Wieso diese plötzliche Sorge um meine Gesundheit?«
»Das ist eine Idee deines Vaters«, erklärte Marsha. Sie sah keinen Grund, dem Kind nicht die Wahrheit zu sagen. »Er nennt das Präventivmedizin.«
»Ich halte es für reine Zeitverschwendung«, meinte VJ.
»Hat sich an deinem Gedächtnis etwas geändert?« fragte Marsha.
»Ich sage doch«, fauchte VJ, »ich bin völlig normal!«
»Schon gut, VJ. Es gibt keinen Grund, wütend zu werden. Wir sind ja froh, daß du gesund bist, und wir möchten, daß es so bleibt.« Sie fragte sich, was der Junge wohl denken würde, wenn man ihm sagte, er sei eine Chimäre und habe Tiergene in seine Chromosomen gepflanzt bekommen.
»Erinnerst du dich noch, wie du drei Jahre alt warst und plötzlich nicht mehr lesen konntest?«
»Natürlich!«
»Wir haben nie viel über diese Zeit gesprochen«, sagte Marsha.
VJ wandte sich ab und schaute aus dem Fenster.
»Warst du eigentlich sehr aufgeregt darüber?« fragte Marsha.
VJ sah sie an. »Mutter, spiele bitte nicht Psychiaterin mit mir! Natürlich hat es mir etwas ausgemacht. Es war frustrierend, nicht mehr in der Lage zu sein, all das zu tun, was ich immer hatte tun können. Aber, ich hab's wieder gelernt, und jetzt geht es mir ausgezeichnet.«
»Wenn du je darüber reden möchtest, stehe ich zur Verfügung. Daß ich nie darüber gesprochen habe, bedeutet nicht, daß es mir gleichgültig ist. Du mußt begreifen, daß es auch für mich eine belastende Zeit war. Als Mutter hatte ich schreckliche Angst, du könntest krank sein. Als dann klar war, daß dir nichts fehlte, habe ich vermutlich versucht, einfach nicht weiter daran zu denken.« VJ nickte nur.
Sie trafen sich im Wartezimmer bei Dr. Clifford Ruddock, dem Chef der Neurologischen Abteilung. Victor war eine Viertelstunde vor ihnen da. Kaum hatte VJ sich mit einer
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