Das Ungeheuer
vorbeigefahren, um VJ aus dem Kinderhort abzuholen, wo er hingebracht wurde, nachdem er den Vormittag über in der Vorschule gewesen war. Sie wußte, daß etwas nicht stimmte, als sie das Gesicht der Leiterin sah.
Pauline Spaulding war eine wunderbare Frau von zweiundvierzig Jahren, eine ehemalige Grundschullehrerin und Aerobic-Trainerin, die ihre Berufung in der Leitung des Kinderhorts gefunden hatte. Sie liebte die Arbeit, und sie liebte die Kinder, und diese beteten sie wegen ihrer grenzenlosen Begeisterungsfähigkeit an. Aber heute wirkte sie besorgt.
»Mit VJ stimmt etwas nicht«, sagte sie, ohne erst um den heißen Brei herumzureden.
»Ist er krank? Wo ist er denn?«
»Er ist hier«, sagte Pauline. »Er ist nicht krank. Seine Gesundheit ist ausgezeichnet. Es ist etwas anderes.«
»Was denn?« rief Marsha.
»Es fing kurz nach dem Mittagessen an«, berichtete Pauline. »Wenn die anderen Kinder ihre Mittagsruhe halten, geht VJ meistens in den Werkraum und spielt mit dem Schachcomputer. Das tut er schon seit einer Weile.«
»Ich weiß«, sagte Marsha. Sie hatte ihm erlaubt, die Mittagsruhe wegzulassen, nachdem er ihr erklärt hatte, er brauche die Ruhe nicht, und die Zeitverschwendung sei ihm ein Greuel.
»Niemand sonst war zu dieser Zeit im Werkraum«, fuhr Pauline fort. »Aber plötzlich gab es einen großen Krach. Als ich hinkam, war VJ gerade dabei, den Computer mit einem Stuhl zu zertrümmern.«
»Ach du meine Güte!« rief Marsha. Tobsuchtsanfälle gehörten sonst nicht zu VJs Verhaltensrepertoire. »Hat er sich dazu geäußert?« wollte sie wissen.
»Er hat geweint, Dr. Frank.«
»VJ - geweint?« Marsha war verblüfft. VJ weinte nie.
»Er hat geweint wie ein normales dreieinhalbjähriges Kind.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Anscheinend hat VJ den Computer zerschlagen, weil er plötzlich nicht mehr wußte, wie man ihn benutzt.«
»Das ist absurd«, erklärte Marsha. Zu Hause benutzte VJ den Computer, seit er zweieinhalb Jahre alt war.
»Warten Sie ab!« sagte Pauline. »Um ihn zu trösten, bot ich ihm ein Buch über Dinosaurier an, das er gelesen hatte. Er hat es zerrissen.«
Marsha stürzte in den Werkraum. Es waren nur drei Kinder anwesend. VJ saß an einem Tisch und malte in einem Malbuch wie jedes andere Vorschulkind. Als er sie sah, ließ er den Buntstift fallen und lief in ihre Arme. Er fing an zu weinen und sagte, der Kopf tue ihm weh.
Marsha drückte ihn an sich. »Hast du dein Dinosaurierbuch zerrissen?« fragte sie.
Er wandte den Blick ab. »Ja.«
»Aber warum?« fragte Marsha.
Er sah Marsha wieder an. »Weil ich nicht mehr lesen kann.«
In den nächsten paar Tagen war VJ einer neurologischmedizinischen Untersuchung unterzogen worden, um akute neurologische Probleme auszuschließen. Die Befunde waren negativ gewesen, aber als Marsha eine Serie von IQ-Tests wiederholt hatte, die der Junge ein Jahr zuvor durchlaufen hatte, waren die Resultate schockierend verändert. VJs IQ war auf einhundertdreißig gefallen. Immer noch hoch, aber keineswegs auf genialem Niveau.
Victor holte Marsha in die Gegenwart zurück, indem er schwor, daß mit VJs Intelligenz alles in Ordnung sei.
»Warum dann die Untersuchung?« fragte Marsha noch einmal.
»Ich... ich glaube einfach, es wäre eine gute Idee«, stammelte Victor.
»Ich bin seit sechzehn Jahren mit dir verheiratet«, sagte Marsha nach einer Pause. »Und ich weiß, daß du mir nicht die Wahrheit sagst.« Es war schwer vorstellbar, daß ihr eine noch schlimmere Enthüllung bevorstehen sollte als das, was Victor ihr bereits erzählt hatte.
Victor fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar. »Der Grund ist das, was mit den Babys von Hobbs und Murray passiert ist.«
»Wer ist das?«
»William Hobbs und Horace Murray arbeiten hier«, erklärte Victor.
»Sag mir nicht, du hast aus ihren Kindern auch solche Chimären erschaffen!«
»Schlimmer«, bekannte Victor. »Die beiden Ehepaare waren genuin unfruchtbar. Sie benötigten Spendergameten. Da ich die anderen sieben Zygoten von uns eingefroren hatte und da Murray und Hobbs den Kindern ein qualifiziertes Zuhause würden bieten können, habe ich zwei davon genommen.«
»Soll das heißen, daß diese Babys genetisch meine Kinder sind?« fragte Marsha mit neu erwachtem Unglauben.
»Unsere«, korrigierte Victor.
»Mein Gott!« Die neue Offenbarung verschlug ihr die Sprache. Vorläufig empfand sie gar nichts mehr.
»Es ist nichts anderes als das Spenden von Sperma oder Eiern«, meinte
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