Das Ungeheuer
gut an. Ich erinnere mich an sie. Sie ist die Psychiaterin, die ihr Büro in der Etage über dir hat. Sie ist die Dame mit dem Mund, der immer so aussieht, als wollte sie im nächsten Moment jemanden küssen.«
Philip mußte so heftig losprusten, daß er seine Cornflakes ausspuckte und sie in hohem Bogen über den Tisch spritzten. Er wischte sich schuldbewußt den Mund ab, während er krampfhaft versuchte, sein Lachen zu unterdrücken. Die Szene war so urkomisch, daß auch VJ sich eines Lachens nicht erwehren konnte.
»Das ist nicht sehr nett«, rügte ihn Marsha. »Sie ist eine wunderbare Frau und sehr begabt. Wir haben über dich gesprochen.«
»Es wird ja immer schlimmer«, sagte VJ.
»Sie hat sich bereit erklärt, dich zu sehen, und ich halte das für eine gute Idee. Vielleicht zweimal pro Woche nach der Schule.«
»Oh, Mom!« stöhnte VJ, und sein Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck extremen Widerwillens.
»Ich will, daß du darüber nachdenkst«, sagte Marsha. »Wir reden später noch mal über die Sache. Es könnte dir helfen, wenn du älter wirst.«
»Ich bin viel zu beschäftigt, um mich mit solchem Kram abzugeben«, beschwerte sich VJ und schüttelte den Kopf.
Die Bemerkung entlockte Marsha ein Schmunzeln. »Denk trotzdem drüber nach!« bat sie ihn. »Noch was: Ich habe gerade mit deinem Vater gesprochen. Hat er sich dir gegenüber in irgendeiner Weise geäußert, er würde sich um deine Sicherheit sorgen - irgendwas in der Art?«
»Ja, er hat da so was angedeutet«, sagte VJ. »Er wollte, daß ich mich vor Beekman und Hurst in acht nehme. Aber ich sehe diese Burschen nie.«
»Offenbar macht er sich noch immer Sorgen«, erklärte Marsha. »Er hat mir gerade gesagt, daß er einen Mann engagiert hat, der tagsüber auf dich aufpaßt. Er heißt Pedro und ist schon auf dem Weg hierher.«
»O nein!« stöhnte VJ. »Das halt ich nicht aus!«
Sobald sie mit ihrer Patientenrunde fertig war, fuhr Marsha auf die Interstate 495 und rollte in Richtung Westen, nach Lowell. Schon an der vierten Ausfahrt verließ sie die Interstate wieder, und mit Hilfe von ein paar Richtungsangaben, die sie sich auf einem leeren Rezeptformular notiert hatte, erreichte sie über mehrere kleine Landstraßen schließlich Mapleleaf Road 714, ein ziemlich heruntergekommenes, in schmutzigem Grau gestrichenes Haus im viktorianischen Stil. Irgendwann in der Vergangenheit war es einmal zu einem Doppelhaus umgebaut worden. Die Fays wohnten im ersten Stock. Marsha drückte auf den Klingelknopf.
Marsha hatte bereits vom Krankenhaus aus angerufen, so daß die Fays auf ihren Besuch vorbereitet waren. Obwohl ihre Tochter elf Jahre für sie und Victor gearbeitet hatte, war Marsha den Eltern nur ein einziges Mal begegnet: bei Janices Beerdigung. Janice war seit vier Jahren tot. Marsha hatte ein seltsames Gefühl dabei, auf der Veranda ihrer Eltern zu stehen und darauf zu warten, daß sie die Tür aufmachten. Da sie so viele Jahre engsten Kontakt mit Janice gehabt hatte und sie genauestens kannte, war Marsha zu der Überzeugung gelangt, daß es in ihrer Familie signifikante negative emotionale Tendenzen geben mußte, aber sie hatte keine Ahnung, was genau das sein mochte. In diesem Punkt war Janice absolut verschlossen gewesen.
»Bitte, kommen Sie doch herein!« sagte Mrs. Fay, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. Sie war eine weißhaarige Frau von angenehmem Äußeren, wenngleich ziemlich gebrechlich wirkend. Marsha schätzte sie auf Anfang Sechzig. Ihr fiel auf, daß die Frau es vermied, ihr in die Augen zu schauen.
Das Innere des Hauses machte einen noch heruntergekommeneren Eindruck als das Äußere. Die Möbel waren alt und wurmstichig. Besonders unappetitlich jedoch war der allgegenwärtige Schmutz. Die Papierkörbe quollen über von Bierdosen und McDonald's-Verpackungen. Überall stand schmutziges Geschirr herum. In einer Ecke des Raumes waren sogar Spinnengewebe an der Decke.
»Ich sag' Harry, daß Sie da sind«, erklärte Mrs. Fay.
Aus dem Hintergrund hörte Marsha die Geräusche einer Fernsehsportübertragung. Sie setzte sich auf den äußersten Rand des Sofas, sorgfältig darauf achtend, daß sie nicht mit der staubigen Lehne in Berührung kam.
»Aha«, sagte eine heisere Stimme. »War ja auch Zeit, daß die Frau Seelenklempnerin uns mal besuchen kommt.«
Marsha drehte sich um und sah einen großen Mann mit einem gewaltigen Bauch und einem schmuddeligen Netzunterhemd ins Zimmer schlurfen. Er kam geradewegs zu ihr und
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