Das Ungeheuer
Victor nicht antworten würde, und sie streichelte die Katze, die diese Aufmerksamkeiten entgegennahm, als seien sie ihr eine Last.
Victor schüttelte den Kopf. »Nein. Ich halte VJ für eines der bestangepaßten Kinder, die ich kenne. Was gibt's zum Abendessen?«
»Victor!« sagte Marsha in scharfem Ton. »Es ist wichtig.«
»Schon gut, schon gut.« Victor klappte die Zeitschrift zu.
»Ich meine, mit Erwachsenen kommt er prima zurecht«, fuhr Marsha fort. »Aber anscheinend verbringt er seine Zeit niemals mit Kindern seines Alters.«
»Mit Kindern seines Alters ist er in der Schule zusammen«, stellte Victor fest.
»Das weiß ich«, gab Marsha zu.
»Um ehrlich zu sein«, sagte Victor in dem Bewußtsein, daß er jetzt mit Vorbedacht grausam war, aber angesichts seiner eigenen bangen Sorgen um VJ - Sorgen ganz anderer Art als die, unter denen seine Frau litt - konnte er es nicht ertragen, bei diesem Thema zu bleiben. »Um ehrlich zu sein, ich glaube, du bist einfach neurotisch. VJ ist ein großartiges Kind. Ihm fehlt nichts. Ich glaube, du reagierst noch immer auf Davids Tod.« Er zuckte bei diesen Worten innerlich zusammen, aber es führte kein Weg darum herum: Die beste Verteidigung war der Angriff.
Seine Bemerkung traf Marsha wie eine Ohrfeige. Augenblicklich blubberten die Emotionen herauf. Sie kämpfte die Tränen nieder und zwang sich fortzufahren. »Es gibt noch andere Dinge neben seinem ersichtlichen Mangel an Freunden. Er scheint nie jemanden oder etwas zu brauchen. Als wir Kissa kauften, haben wir ihm gesagt, es sei seine Katze, aber VJ hat sie nie wieder eines Blickes gewürdigt. Und da du Davids Tod nun einmal angesprochen hast: Findest du es normal, daß Victor seinen Namen niemals erwähnt? Als wir ihm von David erzählten, benahm er sich, als handelte es sich um einen Fremden.«
»Marsha, er war fünf. Ich glaube, du bist hier diejenige, die gestört ist. Fünf Jahre sind eine lange Zeit zum Trauern. Vielleicht solltest du mal zu einem Psychiater gehen.«
Marsha biß sich auf die Lippe. Victor war sonst ein so liebevoller Mann, aber immer, wenn sie über VJ sprechen wollte, schnitt er ihr das Wort ab.
»Ich wollte dir nur sagen, was mir so durch den Kopf geht.« Sie stand auf. Es wurde Zeit, in die Küche zurückzukehren und das Essen fertig zu machen. Als sie die vertrauten Geräusche von Pac-Man aus dem Arbeitszimmer hörte, war sie ein wenig beruhigt.
Victor stand auf, streckte sich und folgte ihr in die Küche.
2
19. März 1989
Sonntag, am frühen Abend
Dr. William Hobbs schaute über das Schachbrett hinweg seinen Sohn an und staunte über ihn, wie er es fast jeden Tag tat, als der Junge plötzlich seine tiefblauen Augen verdrehte und rückwärts vom Stuhl kippte. William sah nicht, wie sein Sohn auf dem Fußboden aufschlug, aber er hörte den furchtbaren Schlag.
»Sheila!« rief er, sprang auf und lief um den Tisch herum. Zu seinem Entsetzen sah er, daß Maurice mit Armen und Beinen wild um sich schlug. Er lag in den Zuckungen eines epileptischen Anfalls.
William war Dr. phil., kein Mediziner, und so wußte er nicht genau, was er zu tun hatte. Vage erinnerte er sich daran, daß man die Zunge des Opfers schützen müsse, indem man ihm irgend etwas zwischen die Zähne schob, aber er hatte nichts Geeignetes zur Hand.
Er kniete vor dem Jungen, der in wenigen Tagen drei Jahre alt werden würde, und schrie von neuem nach seiner Frau. Maurices Körper verrenkte sich mit erstaunlicher Kraft, und William hatte alle Mühe zu verhindern, daß das Kind sich verletzte.
Sheila erstarrte, als sie sah, wie ihr Mann mit dem wild um sich schlagenden Kind rang. Inzwischen hatte Maurice sich heftig auf die Zunge gebissen, und als sein Kopf jetzt auf und ab zuckte, sprühte schaumiges Blut auf den Teppich.
»Ruf einen Krankenwagen!« rief William Hobbs.
Sheila schüttelte den lähmenden Bann ab und hastete in die Küche und zum Telefon. Maurice hatte sich schon nicht wohl gefühlt, als sie ihn aus der Chimera-Tagesstätte abgeholt hatte. Er hatte über Kopfschmerzen geklagt - pochende Kopfschmerzen wie bei einer Migräne. Natürlich hätten die meisten Dreijährigen ihre Kopfschmerzen anders beschrieben, aber Maurice war nicht wie die meisten Dreijährigen. Er war ein echtes Wunderkind, ein Genie. Mit acht Monaten hatte er sprechen gelernt, mit dreizehn lesen, und inzwischen besiegte er seinen Vater beim allabendlichen Schachspiel.
»Wir brauchen einen Krankenwagen!« schrie Sheila in die
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