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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
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geringsten Zuwiderhandlungen, es reichte, wenn ein Kind oder seine Frau dem Familienoberhaupt widersprach. Von früher Kindheit an hätten die Kinder gelernt, dass man sich nur durch Anwendung extremster Gewalt durchsetzen kann, dass es darauf ankam, so stark wie der Vater zu werden und wie er durch Angst zu regieren. Die älteren Brüder tyrannisierten, sobald sie körperlich dazu imstande waren, die jüngeren Geschwister. Die Eltern Yüllans hatten im Übrigen nach einem fast zwanzigjährigen Aufenthalt in Deutschland kaum ein Wort Deutsch gelernt, sie hatten ausschließlich unter ihresgleichen gelebt und keine Ahnung von der Lebensweise und den Lebensregeln in der Bundesrepublik. Die archaischen, patriarchalischen Familienrechte bestanden so in ihren Köpfen ungebrochen weiter fort. Gleichzeitig erfüllte ein aristokratischer Stolz die Familie: In ihrem Heimatland hätten sie als »Scheichs« ein Anrecht auf Abgaben der ihnen untergeordneten Klientenfamilien gehabt und auch jetzt erwarteten sie, dass die anderen, hier die deutschen Ämter, für ihren Lebensunterhalt sorgten. Geschähe das nicht im erwünschten Umfange, so würde man von ihnen bedroht. Sie seien völlig verständnislos, wenn nicht alles so vor sich ginge, wie sie es sich vorstellten. Unter einem solchen häuslichen Einfluss, bei einem solchen negativen elterlichen Vorbild hätte sich der Reifungsprozess bei Yüllan ebenso wie bei seinen Geschwistern erheblich verzögert, so dass das Jugendamt dafür plädierte, ihn strafrechtlich als Heranwachsenden einem Jugendlichen gleichzustellen.
    Meine Aufgabe war es zunächst, aus allen diesen Mosaiksteinen ein kohärentes Bild von Yüllans Lebenssituation zusammenzubauen. Ich konnte Verständnis für ihn entwickeln, weil übermächtige Gewalten die explosive Mischung in ihm erzeugt hatten, die schließlich zur Katastrophe führte. Auch Mitleid konnte ich für ihn empfinden, weil sein Leben für die nächsten zehn Jahre verpfuscht war, aber nur schwer Sympathie - dazu hatte er mich zu sehr mit seiner Killerstory für dumm verkaufen wollen. Nicht, dass er mich belogen hatte, nahm ich ihm übel, sondern seine Arroganz: dass er mich für dumm genug und sich für schlau genug gehalten hatte, sie ihm abzunehmen. Gegen diese Kränkung musste ich ankämpfen, um ihm gegenüber objektiv zu bleiben.
    Ich versuchte dem Gericht zu zeigen, dass Yüllans Gewaltbereitschaft nicht allein ein individueller Charakterzug eines stimmungslabilen, explosiblen Psychopathen oder eines verwahrlosten Heranwachsenden war und man ihn nicht allein für sie verantwortlich machen konnte. Er war ja groß geworden in einem bestimmten soziokulturellen Zusammenhang. Um diesen deutlich zu machen, zeichnete ich die Situation der Kurden in ihren Ursprungsländern nach: Die Kurden gehören nämlich zu den kulturell eigenständigen Völkerschaften ohne eigenen Staat, ein Schicksal, das sie unter anderen mit den Basken und den Tschetschenen teilen. In ihrem Siedlungsgebiet, aufgeteilt zwischen der Türkei, dem Irak, dem Iran und Syrien, haben sie eigene Volksvertretungen, Verwaltungsinstanzen, Gerichte oder Gesetze niemals entwickeln können. Auch nicht der geringste Ansatz regionaler Selbstverwaltung ist ihnen gewährt worden: Über lange Zeit stand sogar der Gebrauch ihrer eigenen Sprache in der türkischen Öffentlichkeit unter Strafe. Die fremden Staatsmächte, aber auch die Gesetze der Länder, in denen sie lebten, hätten die Kurden seit vielen Jahrzehnten nur in Gestalt einer feindseligen Unterdrückung kennen gelernt. Wo der Staat einem Teil seiner Bewohner aber noch nicht einmal die elementarsten Lebensrechte garantiert, ja diese im Gegenteil mit Füßen tritt, wie das in den Siedlungsgebieten der Kurden ständig geschieht, da könnten seine nur als Unterdrückungsattribute fremder Herrschaft erlebten Rechte und Gesetze, aber auch sein Gewaltmonopol sich dem Rechtsempfinden der so Unterdrückten nicht einprägen. Vielmehr entstehe bei vielen von ihnen das Gefühl, dass es legitim sei, das, was man selbst für sein Recht halte, vor allem das, was es den eigenen Traditionen entspreche, sich selbst zu verschaffen, nötigenfalls auch mit Gewalt. Anstelle der Staatsgewalt trete in solchen Situationen also nicht selten die der individuellen oder der subkulturell gerechtfertigten Gruppengewalt, anstelle der gesetzlichen Normen die der Stammes- oder Familientraditionen und der aus ihnen sich herleitenden Ehr- und Moralbegriffe. Von diesen

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