Das Unglück der kleinen Giftmischerin
sexuell behelligt worden sein und hatte sie das in einer schwachen Stunde ihrer Tochter erzählt, so dass diese sich zu ihrer Rächerin berufen fühlte?
All diese Überlegungen musste ich natürlich für mich behalten. Aber die Schwierigkeit blieb, dass ich mir nicht ganz erklären konnte, wie Josefine dazu gekommen war, den Großvater nicht nur zu verwünschen, sondern mit Gift wirklich töten zu wollen. Ich sagte dem Gericht zwar, dass ihre noch kindliche Fantasie und ihre Beschäftigung mit Totenkulten und Geisterbeschwörungen vielleicht dazu geführt hatten, dass die Grenze zwischen Leben und Tod für sie nicht so scharf gezogen war und der Tod ihr auch nicht so endgültig erschien wie uns Erwachsenen, aber ich war mir klar darüber - und verheimlichte das auch dem Gericht nicht -, dass dies keine ausreichende Erklärung dafür war, dass Josefine ihre Tötungshemmung überwand. Auch konnte ich mir nicht vorstellen, dass dafür allein die Lästigkeit und der Ärger ausreichten, den der Großvater ihr und ihrer Mutter gemacht hatte. Während des Prozesses erreichte das Gericht allerdings noch eine grauenvolle Information, mit der es juristisch nichts anfangen konnte, die es mir aber gleichwohl zur Kenntnis gab. Es tauchte nämlich eine Strafakte aus dem Jahr 1987 auf, wonach der mittlerweile verstorbene Opa Josefines väterlicherseits wegen Totschlages zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden war. Er hatte seinen unehelichen Sohn, den er mit einer sehr viel jüngeren Frau hatte, getötet, zerstückelt und im Garten vergraben, als dieser sich bei einem Treppensturz schwer verletzt hatte. Erst zwei Jahre später war die Leiche gefunden worden. Der Opa hatte nur einen Teil der Strafe absitzen müssen und war dann auf Bewährung entlassen worden. Das erklärte, dass Josefine ihn als Kind ein paar Jahre nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Die Akte enthielt noch einen Vermerk. Dieser Großvater war selbst der einzige Überlebende einer anderen Familientragödie: Im Alter von dreizehn Jahren, 1930, hatte sein eigener Vater, also Josefines Urgroßvater, seine Frau, die anderen Geschwister und sich selbst getötet. Der Opa war danach zeitweise von einer Tante, zeitweise von Pflegefamilien großgezogen worden.
Mord und Totschlag waren also in dieser Familie - wie bei den Atriden - nunmehr in der vierten Generation zu Haus, wobei die dritte, die von Josefines Vater, anscheinend übersprungen worden war. Und das war als Familiengeheimnis gehütet worden: Josefines Vater hatte mir in unserem langen Gespräch nichts davon erzählt. Als ich ihn telefonisch darauf ansprach, war ihm das sehr peinlich. Er versicherte mir aber, dass Josefine von diesen Vorkommnissen eigentlich nichts wissen könne: Niemand hätte ihr etwas davon erzählt. Auch der Opa mütterlicherseits nicht? Nun, der hätte zwangsläufig wohl davon gewusst, die Sache wäre damals durch alle Zeitungen gegangen, aber er hätte dieses Wissen nie dazu ausgenutzt, ihn oder seine Frau unter Druck zu setzen oder aber seine Familie im Streit als Mörderbrut zu beschimpfen.
Natürlich konnte ich nicht sicher sein, ob der Opa im Ärger über Josefine ihr nicht doch irgendwann etwas Derartiges entgegengehalten und sie das sowohl als eine Bedrohung ihrer Familie angesehen als auch für sich selbst identifikatorisch verarbeitet hat, derart, ja, die Schultes sind in der Lage, jemanden umzubringen, wenn man sie in die Enge treibt, und ich bin eine Schulte. Aber irgendeinen Anhaltspunkt gab es für eine solche Annahme nicht, und so konnte ich sie dem Gericht auch nicht als ein denkbares Motiv Vorbringen.
Im Rückblick auf den Prozess geht mir jedoch noch manches andere im Kopf herum: Der Vater war früher Chemielaborant gewesen, das Gift stammte aus seinen Beständen,... seine junge Freundin, mit der er sich schon bald nach dem Tod der Frau zusammengetan hatte ... Vielleicht hatte der Vater Josefine mit einem harmlosen Pülverchen zum Großvater vorgeschickt und inzwischen selbst seiner Frau das Arsenik gegeben - die Butterdose blieb doch, nachdem die Mutter sich daraus bedient hatte, auf Opas Tisch stehen, wieso war dem auch dieses Mal wieder nichts passiert? Oder hatte der Vater den Tod des Opas gar mit seiner Tochter gemeinsam geplant und sie überredet, sich der versehentlichen Tötung der Mutter für schuldig zu bekennen, weil sie als Jugendliche nur eine kurze Strafe, er aber lebenslänglich riskiert hätte? Vielleicht war er ja auch mit seiner Tochter
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