Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
Center auf irgendeine Art verbunden war. Die Forscher hatten nur Zugang zu ihren jeweiligen Abteilungen, das wusste Niove. Selbst diejenigen in den obersten Etagen würden kaum Zugriff auf die Überwachungseinheiten haben.
Wer also war der Dieb, und was geschah mit den verschwundenen Kindern? Wurden sie verkauft? Landeten sie in Forschungseinrichtungen der Konkurrenz? Nicht nur aus den Nachbarstädten hatte es immer wieder Spionageübergriffe gegeben, auch in Noryak selbst war der Wettbewerb zwischen den einzelnen Centern groß. Bisher waren sechs Klone verschwunden – der letzte Vorfall lag weniger als drei Wochen zurück.
Es war ein Rätsel, das zu lösen sie unter den Fingern juckte. Sie brannte darauf, im Austausch für ihre eigenen Erkenntnisse Atlans Geschichte zu hören – wie er von diesen Dingen erfahren hatte, obwohl sie höchster Geheimhaltung unterlagen.
Sie bog in eine der Seitengassen ein und wandte sich kurz darauf nochmals nach links. Es waren nur noch wenige Häuser bis zu ihrem Unterschlupf – einer kleinen Einzimmerwohnung in einem der unteren Stockwerke eines Mietshauses, die sie ohne das Wissen ihrer Familie in Anspruch nahm. Da sie kaum riskieren konnte, in ihrer Arbeiterkleidung von ihrer Familie ertappt zu werden, nutzte sie diese Wohnung, um unbeobachtet die Rollen zu tauschen. Passende Kleidung für beide Seiten ihres Lebens hatte sie dort immer vorrätig.
Erst als sie das Haus sehen konnte und die Verlangsamung ihrer Schritte bemerkte, erkannte sie die Anspannung, unter der sie auf dem gesamten Weg hierher gelitten hatte. Es war nicht so, dass sie Angst hatte, wenn sie allein auf den Straßen unterwegs war, aber in der Kleidung einer Arbeiterin fühlte sie sich dabei wohler. Ungezwungener, akzeptierter und zugleich besser fähig, in der Menge unterzutauchen, sollte sie diesen Schutz benötigen.
Endlich hatte sie das Haus erreicht. Es war schmal und machte den Eindruck, als sei es von seinen beiden Nachbarn eingeklemmt worden, um zu verhindern, dass es einfach umfiel. Zuerst versuchte sie, die schwere Tasche auf dem Knie zu balancieren. Schließlich musste Niove aber doch kapitulieren und sie auf den Boden stellen, um in den Falten und Taschen ihrer Kleidung nach dem Schlüssel zu kramen, mit dem sie die Eingangstür öffnen konnte.
In der Welt der Natürlichen gab es keine Mikrochips, die ständig und überall gescannt wurden und so automatisch Türen und Ähnliches betätigten. Sie mochte diese Anonymität und altmodische Technik, aber sie hatte auch einen Nachteil für jemanden wie Niove: Sie vergaß diese ungewohnten Dinge gerne.
Gerade als sie dachte, den ganzen Weg noch einmal zurückgehen zu müssen, fühlte sie die raue Kante des altmodischen Schlüssels unter ihren Fingerspitzen.
Die beiden Gestalten verschwammen mit den Schatten, die die Nacht in den schlecht beleuchteten Seitengassen warf. Sie warteten auf eine günstige Gelegenheit und hätten sie beinahe trotzdem verpasst, als sie endlich gekommen war. Hektisch stieß Maretha Hemmon einen Ellbogen in die korpulente Seite. Der Riese stieß ein unwilliges Keuchen aus, setzte sich aber in Bewegung.
Unaufhaltsam wie ein Felsen, der einmal ins Rollen gekommen war, stampfte er auf die Frau zu, während Maretha durch die Schatten hastete, um von der anderen Seite her eingreifen zu können, sollte es notwendig sein.
Das Geräusch von Hemmons donnernden Schritten verriet ihn, doch damit hatten sie ebenso gerechnet wie mit der Reaktion der jungen Frau. Sie war durch und durch ein Klon. Hätten sie sie nicht schon seit dem Verlassen von Essers Wohnsitz verfolgt, spätestens jetzt hätte ihr Verhalten sie verraten.
Wo jeder normale Mensch die Flucht ergriffen oder zumindest zurückgewichen wäre, blieb sie einfach stehen und wartete. Erst als eindeutig wurde, dass der auf sie zustürmende Mann nicht anhalten würde, versuchte sie die Tür zu öffnen. Was jedoch genauso nutzlos war.
Jeder, der wirklich in solch einem Haus lebte, wusste, dass es keine Sicherheit bot, im Gegensatz zu den Festungen, in denen sich die Elite der Gesellschaft verschanzte.
Maretha merkte, wie ein Gefühl der gerechtfertigten Wut auf diese schmale Person in ihr aufkam, die unter Hemmons Silhouette zu verschwinden begann. Auch wenn diese Frau keine der Fabriken gegründet hatte oder betrieb, lebte sie doch von dem Luxus, den ihr das Elend und Sterben anderer ermöglichte. Es war richtig, sie büßen zu lassen für die Sünden ihrer
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