Das unheimliche Haus
immer wieder den Kopf, murmelte Unverständliches vor sich hin und machte insgesamt eher einen belustigten als einen mißtrauischen Eindruck. Und Karlchen Kubatz grinste hinter seinem breiten Rücken den Schülern zu, die sich zuerst nur zaghaft und dann immer neugieriger den beiden anschlossen. Als man das zweite Stockwerk erreicht hatte, prallte die Ansammlung beinahe mit Studienrat Dr. Purzer und seiner 9 b zusammen, die sich in der kurzen Pause eigentlich nur die Beine vertreten wollten.
Gleich neben dem Treppenhaus gab es hier ein fensterloses Stück Korridor, an dessen Wand ein Thermometer angebracht war. Oberstudiendirektor Senftleben blieb stehen, und mit ihm zusammen zogen auch Karlchen Kubatz und die ganze Prozession die Bremse.
»Das hier ist die kühlste Stelle im Schulgebäude«, erklärte der Schulleiter. »Amtlich und nachgemessen.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Und es ist kurz vor zehn.« Er trat ganz dicht an das Thermometer heran und stellte sich auf die Zehenspitzen. Seine Augen befanden sich jetzt genau in der Höhe der Meßzahlen. »Nicht ganz vierundzwanzig Grad«, las er ab. »Der Maximalwert wird von diesem fabelhaften Instrument exakt festgehalten. Volumenänderung durch Quecksilber in einem Glasrohr mittels angesetztem Glaskolben.« Er drehte sich zu Karlchen Kubatz um. »Was sagst du jetzt, du Schlaumeier?«
»Tut mir leid, aber ich bleibe dabei, Herr Direktor«, erwiderte Karlchen. »Seit Jahren gibt’s bei uns jetzt schon die Sommerzeit, aber die Schule hat das glatt verschlafen. Normalerweise flitzen wir im Sommer morgens um zehn Uhr hierher und schauen nach, ob es fünfundzwanzig Grad warm ist. Weil fünfundzwanzig Grad an diesem Thermometer hitzefrei bedeuten.«
»So steht es in der Schulordnung«, bestätigte der Oberstudiendirektor.
»Aber schon vor einem halben Jahrhundert...«
»Du übertreibst«, mahnte Herr Senftleben. »Seit genau achtundzwanzig Jahren.«
»Jedenfalls ist bisher noch niemand auf die Idee gekommen, diese Schulordnung zu ändern«, fuhr Karlchen Kubatz beharrlich fort. »Das hätte aber spätestens bei der Einführung der Sommerzeit passieren müssen.«
»Ich höre«, sagte der Direktor.
»Auch ich bin ganz Ohr«, fügte Dr. Purzer hinzu.
»Wenn es jetzt zehn Uhr ist«, erklärte Karlchen, »dann ist es in der Natur eigentlich erst neun Uhr, und da kommen wir ja nicht einmal im dicksten Hochsommer auf fünfundzwanzig Grad.«
Die versammelten Schüler hatten allmählich begriffen, worum es ging, und murmelten Zustimmung.
Paul Nachtigall hatte sich bis zu Karlchen durchgedrängelt. »Du bist wohl seit neuestem als Alleinunterhalter unterwegs«, füsterte er. »Wieso hast du mit keinem Ton gesagt, was du vorhast?«
»Könnte ja sein, daß ich mich blamiere«, tuschelte Karlchen zurück. »Es ist schon abendfüllend, wie ich euch mit meiner Fotografiererei reingeritten hab’.«
Oberstudiendirektor Senftleben hatte sich inzwischen endgültig von dem Thermometer abgewandt und stand jetzt mitten im Kreis der versammelten Schüler. »In der Tat erstaunlich, daß unsere Hitzefrei-Regelung bisher den neuen Umständen nicht angepaßt wurde«, stellte er fest. »Und so wie ich das Problem sehe, gibt es zur Lösung wieder einmal die berühmten zwei Möglichkeiten.«
Karlchen Kubatz hob seine rechte Hand in die Luft, als würde er sich im Unterricht zu Wort melden.
»Bitte«, sagte der Direktor.
»Entweder man liest das Thermometer wie bisher um zehn Uhr ab«, erklärte der Junge mit dem Bürstenhaarschnitt, »dann muß es aber nur, sagen wir, vierundzwanzig Grad anzeigen. Oder das Thermometer wird erst um elf Uhr abgelesen, und dann kann es wie bisher bei den fünfundzwanzig Grad bleiben. Das scheint mir eine logische Überlegung zu sein.«
Die Schüler grinsten und blickten erwartungsvoll zu ihrem Direktor.
Ein kleiner Junge mit einer Metallspange über den Zähnen hatte vor Aufregung einen knallroten Kopf bekommen. »Spitze«, piepste er, »hätte jedem von uns einfallen müssen, wenn wir nicht so dämlich wären.«
»Nein«, sagte Herr Senftleben, »das geht nicht, ich meine, daß euch die Sommerzeit übers Ohr haut. Da hat die Schulbehörde tatsächlich ganz schön gepennt. Ich werde sie umgehend anrufen und aufwecken.«
»Vielleicht haben wir alle ein bißchen geschlafen«, bemerkte Dr. Purzer mit einem schiefen Lächeln.
»Anwesende sind immer ausgeschlossen«, bemerkte der Direktor. Er machte zwei Schritte in die Richtung seines Büros,
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