Das unheimliche Haus
geschlossenen Fensterläden hereinkam.
Manchmal stießen sie in der Finsternis mit dem Oberschenkel gegen ein Geländer oder mit der Schulter an einen niedrigen Rundbogen. Dann wirbelten sie herum, erstarrten und befürchteten, daß sie sich verraten hätten. Obgleich sie fest davon überzeugt waren, daß dieses Haus seit langer Zeit kein Mensch mehr betreten hatte und daß es ganz sicher unbewohnt war.
Die herrschaftliche Villa wirkte augeräumt und geplündert, keine Vorhänge mehr und kein einziges Möbelstück. Nur nackte Mosaikfußböden und Marmorstufen. Ein riesiger offener Kamm mit irgendeinem Wappen in den Stein gemeißelt. Überall lag dicker Staub. Der Verfall der äußeren Fassade setzte sich im Indern fort. Tapeten, die bestimmt einmal sehr wertvoll gewesen waren, hatten sich an vielen Stellen gelöst, hingen in Fetzen herunter. Leere überall, wohin man blickte, auch in den oberen Fluren und Zimmern. Der Stuck an den Decken war von grünem Schimmel zerfressen, Wandmalereien von Schlachten, mit Girlanden als Rahmen, kaum noch zu erkennen, ausgebleicht und abgefärbt.
Überall ein Geruch von vermodernden Balken, sich auflösendem Gips, Schimmel und Verfall. Und überall auch Spinnweben.
Die Glorreichen Sieben kamen aus dem Staunen nicht heraus.
»Klasse«, flüsterte Karlchen Kubatz begeistert. »So was hat uns schon immer gefehlt.«
»Das wird unsere einsame Insel«, schwärmte Sputnik.
»Komm wieder auf den Teppich, Dicker«, mahnte Emil Langhans.
Sie durchsuchten jeden Winkel.
Am Ende eines kurzen Korridors entdeckten sie eine steile Holztreppe, die wie ein schwarzes Loch in die Tiefe führte.
»Bestimmt gibt es da unten Ratten«, vermutete Manuel Kohl.
Sputnik nickte fachmännisch und bohrte seine Augen in die Dunkelheit. »Ganze Generationen, nehm’ ich an. Die leben doch hier wie im Paradies, sind fruchtbar und vermehren sich.«
Es roch tatsächlich muffig.
Der Boß hatte seinen Hemdärmel zurückgeschoben. Die Leuchtziffern zeigten bereits sechs Uhr. »Für heute ist’s genug«, stellte er fest. »Es ist höchste Zeit, daß wir uns auf die Socken machen.«
Sie kletterten gerade über eine Treppe, die eher eine Leiter war, bis in den Speicher. Hier war es zugig. Eine Tür knallte zu, und Staub wirbelte auf. Der Krach schlug wie ein Schuß durch die Stille des leeren Hauses. Die Jungen blieben wieder einmal stehen, und nicht nur Manuel Kohl hätte in diesem Moment eine ganze Menge darum gegeben, woanders zu sein. Aber eben nur einen Moment lang.
Nachdem sie sich von dem neuerlichen Schrecken erholt hatten, setzten sie ihren Weg nach oben fort. Sie mußten eine ziemlich schwere, viereckige Klapptür über ihren Köpfen aufstemmen. Beim dritten Versuch gelang es ihnen, und im selben Augenblick waren sie wie geblendet. Sie standen nämlich so gut wie im Freien. Zwar hatten sie auf ihren ausgestreckten Armen noch den massiven Holzdeckel über sich und den kleinen Turm mit der Zwiebelspitze auf dem Dachfirst im Rücken, aber nach drei Seiten erblickten sie nur den Himmel, der schon fast wieder ohne Wolken war, die Amper mit ihren zwei Holzbrücken und den Zobelberg. Dicht unter ihnen lag der verwilderte Garten, der zugewachsene Wald und dahinter die Bahnlinie, deren Gleise in der Sonne flirrten.
Der Wind fuhr ihnen ins Haar, Dohlen und Grünlinge zwitscherten, sie waren überwältigt.
»Ein Panorama — wie von einem Aussichtsturm«, schwärmte Emil Langhans, nachdem er sich gefaßt hatte. »Im übrigen ist so ein Fernblick tausendmal zuverlässiger als ein Kompaß«, fügte er nach einer Weile hinzu. Er hatte nämlich hinter den Baumgipfeln den Gaskessel beim Güterbahnhof entdeckt und einen Feldweg, der direkt in seine Richtung führte.
Die Stimme aus dem Schatten
Das zur einen Hälfte himmelblau und zur anderen Hälfte schneeweiß lackierte Wohnmobil erreichte Bad Rittershude am Nachmittag gegen vier Uhr.
Etwa eine Viertelstunde früher war der spindeldürre Honeyboy wie ein sonntäglicher Schlittschuhfahrer mit den Händen auf dem Rücken durch das Städtische Hallenbad zum Ausgang gesegelt, um sich aus dem Staub zu machen.
Der Wagen mit dem weit vorgeschobenen Dach über der Fahrerkabine fuhr die Herderstraße hinauf, überquerte den Richard-Wagner-Platz und bog hinter dem Hotel zum Kurfürsten in die Rabenstraße hinein, die am Güterbahnhof vorbei an den Zobelberg führte. Der dicke Sperling hinter dem Lenkrad kannte sich augenscheinlich genau aus. Wenn ihn nicht gerade eine
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