Das unheimliche Haus
Bellinghausen blieb weiterhin über die Reling gebeugt. Er blies eine dicke Wolke Pfeifenrauch zu den Jungen hinüber und blickte sie durch diesen Nebel auf einmal freundlich an. »Natürlich weiß ich über dieses alte Haus eine ganze Menge, aber das wäre ein halber Roman, und ich hab’ im Augenblick beim besten Willen nicht die Zeit, um halbe Romane zu erzählen. Schon jetzt trödle ich viel zu lange hier herum. Tut mir leid, mein Schreibtisch wartet.« Er richtete sich auf. »Ich schwitze nämlich bereits seit zwei Jahren über einem Buch, das die tausendjährige Geschichte von Bad Rittershude erzählen soll. Und es muß bis zum Herbst, wenn der neue Rathaussaal feierlich eröffnet wird, fix und fertig auf dem Tisch liegen. Ihr habt ja keine Ahnung, was da an Material zusammengesucht und gelesen sein will. Volle tausend Jahre, das ist ein Berg, vor dem ich im Dreck liege, so winzig wie eine Ameise. Ach was, wie das linke Ohr oder der große Zeh einer Ameise...«
»Das bezweifle ich«, warf Sputnik ein.
Der Mann an der Reling hob verwundert den Kopf. »Was bezweifelst du?«
»Daß Ameisen Ohren und Zehen haben.«
»Vielleicht hab’ ich ein klein wenig übertrieben«, lenkte Herr Bellinghausen ein und wollte jetzt doch noch wissen, auf welche Weise die Glorreichen Sieben das alte Haus entdeckt hatten.
Die Jungen berichteten, wie sie im Wald immer mehr vom Weg abgekommen waren, erzählten von dem Gewitter und daß sie dann plötzlich im Aufzucken der Blitze zuerst das große Eisentor und dann dahinter die verlassene Villa erblickt hätten. Ihr Eindringen in das Haus verschwiegen sie wohlweislich.
Der frühere Lokalredakteur der Bad Rittershuder Nachrichten hatte aufmerksam zugehört. »Ein seltsamer Zufall«, sagte er nachdenklich. »Und seltsam ist auch die Geschichte, die zu diesem Haus gehört.« Er paffte wieder eine Pfeifenrauchwolke vor sich hin. »Vielleicht erzähle ich sie euch einmal, wenn ich mein Buch fertig habe.« Plötzlich wirkte er gar nicht mehr so knurrig sondern sehr liebenswürdig. »So, und jetzt laßt mir meine Ruhe und radelt wieder nach Hause.« Er wandte sich schon zum Gehen.
Da machte Fritz Treutlein im letzten Moment den verzweifelten Versuch, ihn aufzuhalten. »Sie bräuchten dringend einen Friseur«, sagte er wie aus heiterem Himmel. »Entschuldigung, aber jetzt beim Umdrehen kann man sehen, daß Ihnen die Haare schon über den Hemdkragen wachsen.« Er räusperte sich verlegen. »Ich sage das nur, weil Sie sich vorhin über die kurze Bürste von Karlchen lustig gemacht haben.«
Die Glorreichen hatten erschrocken den Atem angehalten. Sie blickten jetzt verwundert zu Fritz Treutlein und dann hinüber zu dem dürren Mann hinter der Reling.
Herr Bellinghausen war stehengeblieben. Anscheinend wußte er noch nicht so recht, ob er sich ärgern oder lachen sollte. Nach einer Weile entschied er sich für das Lachen. Er nahm belustigt seine Pfeife aus dem Mund. »Junger Freund, ich kann gut verstehen, daß meine Zottelmähne deinen Berufsstand beleidigt, wobei erschwerend hinzukommt, daß ich zeitweise dein Kunde war. Aber ich hatte gehofft, deutlich genug erklärt zu haben, daß ich im Augenblick jede Minute für mein Buch brauche. Es bringt mich schon auf die Palme, wenn ich mir fürs Zähneputzen und gelegentlich zum Rasieren meine eigene Zeit stehlen muß. Meinst du, daß ich da in die Stadt gondeln will, um dann in aller Seelenruhe bei euch im Salon die Beine langzumachen? Das würde gar nicht funktionieren.« Er lachte wieder in sich hinein. »Ein Luxus wäre es allerdings nicht, das muß ich zugeben.«
»Den Weg in die Stadt könnte ich Ihnen ersparen«, meinte Fritz Treutlein. »Scheren und das ganze übrige Handwerkszeug hab’ ich in meiner Tasche dabei, weil ich am Vormittag im Hotel zum Kurfürsten bei einem arabischen Dauerkunden antanzen mußte. Wenn Sie also damit einverstanden sind«, er kniff die Augen halb zu und fuhr fort, »dann verpasse ich Ihnen auf der Stelle und kostenlos einen Haarschnitt. Und während ich mich um Ihr Haar kümmere...« Er bekam jetzt ganz schnell einen roten Kopf und blickte auf seine Schuhspitzen, »... währenddessen erzählen Sie uns vielleicht von dem Roman über das verlassene Haus die Kurzfassung.« Er blickte wieder auf. »Zeit ginge Ihnen dabei nicht verloren, weil Sie doch nicht an Ihrem Buch weiterschreiben könnten, während der Friseur an Ihnen herumfummelt.«
Den Glorreichen hatte es schlicht und einfach die Sprache verschlagen.
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