Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee
redete dieser Kerl eigentlich?
Doch dann betrachtete Primus den milchigen Stein, der kaum größer war als ein mittlerer Finger. Diesen Splitter, dachte er, den hatte er doch schon einmal gesehen! Er griff sich an die Stirn und schloss seine Augen. Plötzlich tauchte eine blasse Erinnerung auf. Schwach und wie aus dem Nebel heraus setzten sich die Fetzen zusammen.
Er hatte den finsteren Erdspalt vor Augen, den Felsvorsprung und den tosenden Bach. Er sah seine Hände, wie sie vor langer Zeit neben den Steighaken durch das eisige Wasser tasteten.
»Das Wasser …«, murmelte Primus, »es war so bitter-, bitterkalt …«
Doch da war noch etwas, an das er sich erinnerte. Zwei Hände! Blitzschnell kamen sie auf ihn zu.
»Gibst mir diesen kleinen Splitter herauf und behauptest, es würde das Einzige sein, was dort unten im Wasser liegt.« Rabenstein zischte. Dann aber fing er zu lachen an. »Dafür werde ich niemals dein Gesicht vergessen, als du nach hinten weggekippt bist. Was für ein Anblick! Du warst so entsetzt, dass du nicht einmal geschrien hast.« Er senkte die Stimme und fuhr im Flüsterton fort: »Den goldenen Schlüssel hast du mir damals vom Hals gerissen, weißt du noch? Wolltest dich an mir festhalten. Beinahe hättest du mich noch mitgerissen.«
»Weggekippt?«, rief Primus. »Ich soll weggekippt sein? Nein«, knurrte er, »ich sehe es jetzt genau vor mir. Du hast mich gestoßen! In den Spalt gestoßen, nachdem ich dir den Stein geholt habe!«
»Ein gar tragischer Unfall«, sagte Rabenstein abfällig. »Magnus Ulme hat beinahe einen Herzschlag bekommen, als ich ihm davon berichtete.« Er schüttelte den Kopf. »Dieser alte Narr. Ich musste mich schwer zusammenreißen, um mir das Lachen zu verkneifen. Er wollte sogar in das Loch steigen, um nach dir zu suchen. Kannst du dir das vorstellen? Dieses alte Wrack wollte zu dir hinunterklettern. Aber leider bist du ja noch viel, viel tiefer gefallen als nur bis zum Felsvorsprung.«
Primus rollte mit den Augen. Wie war das? Er war noch tiefer gefallen? Fieberhaft dachte er nach. Doch sosehr er sich auch anstrengte, die Erinnerungen waren wie ausgelöscht.
»Was hast du am Boden des Abgrunds gefunden?«, fragte Rabenstein. »Etwa ein bisschen mehr als dieses kleine Stückchen hier?« Seine Augen begannen zu funkeln. »Was ich aber noch viel interessanter finde, ist: Wie bist du bloß von dort unten wieder ans Tageslicht gekommen? Du scheinst ja ein echter Klettermeister zu sein.«
Primus wollte noch etwas sagen, doch er schloss schnell seinen Mund und schwieg. Offensichtlich war Rabenstein etwas entgangen. Hatte dieser denn nicht bemerkt, dass Primus sich in eine Fledermaus verwandeln und fliegen konnte? Plim musste ihn demnach zu sehr abgelenkt haben, bevor sie aus der Bibliothek geflüchtet waren. Und seine Krähen hatten es ihm wohl auch nicht erzählt.
Gut, freute er sich. Was Rabenstein nicht wusste, das konnte ihnen wiederum nur von Vorteil sein.
»Was willst du hier?«, fragte er.
»Ach Primus«, kam es spottend zurück, »willst du mich etwa für dumm verkaufen? Du weißt ganz genau, wonach ich suche. Schließlich hast du mein Studierzimmer durchwühlt. Das Buch habt ihr mir auch gestohlen«, sagte er. »Aber meinetwegen könnt ihr es behalten. In diesem Loch wird es euch ohnehin nicht viel bringen.« Nachdenklich strich er sich über das Kinn. »Da kommt ihr zwei einfach so in die Bibliothek spaziert und stellt Fragen über die Mondsichel. Ich hätte euch schon bei der ersten Gelegenheit schnappen sollen. Möchte wissen, woher diese kleine Hexe von der ganzen Sache erfahren hat. Hast du ihr etwa davon erzählt? Aber wer hätte es ihr sonst erzählen können? Magnus Ulme hat seine geheimen Nachforschungen zuletzt sogar vor mir versteckt.«
»Dazu wird er wohl allen Grund gehabt haben«, sagte Primus und dachte an das geheime Arbeitszimmer im Turm hinter den Weinfässern.
Aber Rabenstein ließ sich nicht provozieren. »Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, nach welchem der Elemente du wohl suchst«, fuhr er fort. »Reichtum war dir doch eigentlich noch nie wichtig gewesen, alter Freund. Und Unsterblichkeit dürftest du doch schon mehr als genug besitzen, nicht wahr?« Er beugte sich ganz nahe zum Türblatt vor. »Wo bewahrst du das Element auf, das du damals offenbar gefunden hast? Möglicherweise in Ulmes altem Turm? Ich werde mich da wohl mal ein wenig umsehen müssen, glaube ich.«
Primus hörte, wie Rabenstein sich erhob.
»Vorher
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