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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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und brüllte: »Sei still, sei still, sei still!«
    Dann begann er ihr den Inhalt der Flasche ins Gesicht zu pumpen. Sie wehrte sich nicht, sank nur hintenüber, während ihr das Lösungsmittel übers Gesicht lief. Es war nass. Er pumpte weiter, sprang dann ein paar Schritte zurück. MargitKaserer lag stöhnend halb auf der Seite, Marie auf dem Rücken. Ihre offenen Augen blickten starr in den grauen Spätherbsthimmel. Vielleicht war sie tot. Er hatte keine Ahnung von der dosis letalis . Sein Atem ging schwer, er stolperte in der dichter werdenden Dämmerung auf dem Pfad zurück, den er gekommen war. Die Panik hatte sich zwar etwas zurückgezogen, bestimmte aber immer noch sein Handeln. Und die Panik befahl: weg, weg, weg! Dagegen konnte er nichts machen.
    Erst im Auto beruhigte er sich so weit, dass er über andere Dinge nachdenken konnte als rasende Flucht. Die Ratio bekam die Oberhand, nur allmählich, aber doch. Er zwang sich, ruhig zu atmen, ruhig und gleichmäßig, das war das Wichtigste. Er hatte Mühe, auf dem engen Waldweg den Wagen zu wenden, als er losfuhr, spritzte der Kies unter den Hinterrädern auf. Auf der Brücke über die Schlucht kam er weit nach rechts, bis auf Zentimeter an die Begrenzungsmauer; nach der Brücke zwang er sich zum Anhalten und Durchatmen. Nach zehn Minuten fuhr er weiter. Langsam und vorsichtig, nach Sitte des Landes. Nicht auffallen. Er dachte über den Vorfall nach. Er warf einen Blick auf das Fläschchen auf dem Nebensitz. Ein Parfümflakon, den seine Frau beim Auszug vergessen hatte. Er war halbleer. Was hatte ihn dazu gebracht, so durchzudrehen? Und dann wegzulaufen? Das war alles in hohem Maße kontraproduktiv und nicht seine Art. Er kannte die Antwort: eine Nachwirkung von Nummer siebzehn. Ein Flashback. Nur diesmal ohne das Auge Gottes . Ein hundsgewöhnlicher Wutanfall, irrational bis dort hinaus, ausgelöst durch … ja, wodurch? Das hatte er vergessen. Tatsache blieb: Die Hälfte von der Lösung war einer der Kaserer-Schwestern im Gesicht gelandet. Was das für Auswirkungen haben würde, wusste er nicht. Die andere Dame mit dem einzelnen Sprüher – was die erleben würde, war auch nicht sicher. Wenn ihm das schreckliche Auge Gottes erschienen war, hieß das nicht automatisch, dass es bei denSchwestern Kaserer auch so sein würde. Und gesehen hatte er wohl etwas, aber es gab keine Erinnerung daran, nur an die Angst, die ihn beherrscht hatte, aber auch dabei, das war seltsam, setzte schon ein Abschwächungsprozess ein, eine Art progressiver mentaler Löschung; er konnte sich noch an die Angst erinnern, sie aber nicht mehr nachempfinden. Dagegen war die Angst vor seiner Blinddarmoperation immer noch gegenwärtig, da war er achtzehn gewesen, das entsetzliche Gefühl des Ausgeliefertseins. Bis zur Gleichgültigkeitsspritze war das damals so gegangen, nie zuvor und nie wieder danach hatte ihm ein verabreichtes Medikament so wohlgetan wie diese Spritze. Das wusste er alles noch. Nach fast vierzig Jahren.
    Daheim begann er die Folgen seines Tuns zu bedenken. Er war in Panik weggelaufen und hatte die Erpresserinnen ihrem Schicksal überlassen. Verwerflich, feige, moralisch indiskutabel, kein Zweifel. Es hätte doch genügt, sie in Schach zu halten, zu entwaffnen, das war ihm ja schon gelungen … nein, das hätte eben nicht genügt. Sie hätten sich gerächt und ihn angezeigt, am selben Abend noch. Wenn er sie nicht umbringen wollte (und das wollte er eben nicht), dann … ja, dann gab es wohl keine andere Möglichkeit, als sie außer Gefecht zu setzen. Mit Nummer siebzehn. Mit Gift. »Machen wir uns nichts vor, es ist eine hochwirksame Substanz …« Er sprach laut in dem leeren Wohnzimmer der Leupold-Villa, wo er sich mit einem Whisky auf dem Sofa niedergelassen hatte. »Ich hätte sie genauso gut erschießen können … was meinst du, Sami?« Der weiße Kater war hereingekommen und blickte ihn mit großen Augen an. »Kein Griechisch heute?« Sami gab keinen Laut von sich, Romuald lachte laut auf. »Die eine von den beiden hat wahrscheinlich eine Überdosis erwischt und ist tot, was meinst du?« Sami äußerte nichts, begann nur, sich zu putzen. »Du hast recht, Sami, was für eine blöde Frage. Peinlich … woher sollst du das wissen? Du weißt es nicht, ich weiß es nicht,niemand weiß es. Was wir allerdings wissen, ist etwas über die Wirkung der anderen Dosis. Dieser eine Sprüher auf die zweite der sauberen Schwestern Kaserer. Die wird sehr lang schlafen, da

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