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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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und stieg in den ersten Stock. Als er die Oma auf dem Esszimmerboden liegen sah, ging er neben ihr in die Hocke und begann zu weinen. Die Tränen flossen ansatzlos und perlten über seine Wangen, als ob man hinter seinen Augen einen Hahn geöffnet hätte. Er gab keinen Laut von sich, kein Schluchzen, kein Klagen. Nur Weinen. Leute, die ihn kannten, hätten sich sehr gewundert. Er sah in diesen Minuten anders aus als sonst.
    Die Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. Manfredo stand auf, ging zur Kommode, nahm die Wodkaflascheund ein Glas aus dem rechten Fach und goss ein. Er trank in kleinen Schlucken, wie man eine Medizin nimmt, und stieg dann ins Erdgeschoss hinunter. Im Labor war alles, wie es sein sollte. Nichts umgestoßen oder zerbrochen. Auch die Glasgeräte, deren Bezeichnungen er sich ebenso wenig merken konnte wie ihre Verwendung, standen an den üblichen Plätzen auf dem Mitteltisch. Auf dem Labortisch lag nur die leere Plastiktasche, das Geld hatte sie offenbar verräumt, gut so, das war eine stete Quelle von Zwistigkeiten zwischen ihm und der Großmutter, wie sie nämlich mit Geld umging, achtlos, um das Wenigste zu sagen. Sie ließ große Summen im Haus herumliegen, obwohl er ihr schon hundert Mal eingeschärft hatte, sie solle alles Bare sofort in den Tresor legen, wozu hatten sie ihn? »Ganz egal, wer kommt«, hatte er oft argumentiert, »Feuerwehr, Polizei, wer auch immer, und egal, aus welchem Grund – das Labor fällt nicht auf. Du warst Chemielehrerin. Über dreißig Jahre! Das Zeug in den Flaschen – das verstehen sie sowieso nicht. Aber wenn Hunderttausend in kleinen Scheinen herumliegen, dann fällt das auf!« Frau Dr. Leupold sah es ein und gelobte Besserung. Die war jetzt eingetreten, die Besserung, jetzt, wo sie nichts mehr nutzte. Manfredo zitterten die Knie, er musste sich auf die Treppe setzen. Der Schweiß brach ihm aus. Am Horizont tauchte eine Frage auf wie ein Gebirge. Er hatte bisher immer vermieden, sich dieser Frage zu stellen, weil die Gestalt seiner Großmutter, so klein sie war, doch jedes noch so steil aufragende Gebirge verdecken konnte. In ihrem Schatten gab es keine Bedrohung. Das war vorbei. Die Frage lautete: Was soll aus mir werden?
    Manfredo Gonzales Leupold machte nun eine Erfahrung, die Menschen seiner Art manchmal zuteil wird, selten zwar, aber wenn, dann mit durchschlagender Wirkung. Als ob in seinem Kopf ein Schalter umgelegt würde, so war es, so empfand er es – dadurch verschwanden eine Menge innerer Einstellungenund eingeschliffener Verhaltensweisen; so viel von dem, was er als integralen Bestandteil seiner Person betrachtet hatte, war plötzlich weg, anderes, von dem er nie eine Ahnung gehabt hatte, stand mit einem Mal im Vordergrund, eine andere Art zu denken, zu fühlen, zu entscheiden, ein anderer Modus der Existenz. Ein Notprogramm für Fälle wie diesen.
    Der Tod der Großmutter als Auslösereiz.
    Denn jetzt ging es, das war leuchtend klar, nicht um irgendwelchen Kunstkokolores wie sonst in seinem Leben, sondern um die Existenz. Um das Da- und Sosein. Und er konnte zwar weiter da sein, aber nicht mehr so , wie er das gewohnt war. Mit der Wohnung in Hietzing und dem Audi.
    Das Merkwürdigste an diesem neuen Modus war die Ruhe. Sie erfüllte ihn ganz und gar. Kein hysterisches Hecheln, nicht einmal beschleunigter Atem, keine Verzweiflungsattacke, keine »sich überschlagenden Gedanken«, das schon gar nicht; seine Gedanken hüteten sich vor jeder chaotischen Bewegung; sie kamen schön der Reihe nach einer nach dem anderen, wie es die Logik erforderte.
    Er könnte den Tresor räumen und die Polizei rufen. Gute Idee? Ganz blöde Idee. Das Labor. Das Labor war ein Problem. Nicht, wenn irgendein Außenstehender die Oma gefunden hätte. Aber sehr wohl, wenn er selber die Oma gefunden hatte. Denn er war keine vertrauenerweckende Existenz, nicht in den Augen der Polizei.
    Er setzte sich mit dem Wodka an den Esstisch, blickte auf seine Stiefel. Die sahen teuer aus. Manfredo hatte in diesem Modus die Fähigkeit, sich selber mit anderen Augen zu sehen. Zum Beispiel mit den Augen eines Provinzpolizisten. Personalien, Ausweis. Manfredo … wie bitte, heißen Sie?
    Wieso?
    Erklärungen. Also halber Ausländer. So, so. Und der Enkel. Künstler. Aha.
    Alles Sachen, von denen eine allein Verdacht erregte, erst recht alle zusammen. Dazu das Outfit. Der Polizist musste das teure Leder nicht erkennen können, es genügte, dass die Stiefel nicht vom

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