Das unsagbar Gute
Millionen hätte allerdings auch der Mittelschichterpresser gefordert – wenn er denn eine Ahnung von den Aktivitäten der Dr. Leupold hätte. Hatte er aber nicht. Diese Zweihunderttausend, das war so eine Zahl für den Anfang, die man ins Spiel brachte. Als Verhandlungsstart. Auftakt fürs Feilschen; man fängt hoch an, damit man nachgeben kann, aber nicht absurd hoch, damit dem Opfer nicht jede Hoffnung geraubt würde. Und Verhandlungen würde es geben, der Zettel war nur die Eröffnungsnote, das erste Gebot sozusagen, weitere Noten würden folgen. OderTelefonate. Auf dem Zettel stand ja noch nichts von Terminen, Übergabemodalitäten und so weiter.
Manfredo beruhigte sich. Die Sache sah gar nicht so schlecht aus. Also schön: Dieser Jemand hatte die Oma gesehen. Tot. Und sich was dabei gedacht. Das Falsche. Und von diesem Falschen ausgehend hatte er sich seinen kleinen, schmutzigen Plan ausgedacht und seinen kleinen, schmutzigen Brief geschrieben. Plan und Brief beruhten auf dem Vorhandensein der toten Frau Leupold in ihrem Haus. Man konnte den Herrn auch nicht hinhalten. Er musste doch wissen, dass die tote Oma die einzige Sicherheit für das Gelingen seines Vorhabens war. Wenn sie fehlte, hatte er nichts mehr in der Hand. Ohne Leiche kein Verbrechen – oder so ähnlich. Und wenn er der Polizei einen anonymen Hinweis zukommen ließ? Dann würde Manfredo die Oma erneut ins warme Spanien verpflanzen, wie er das schon im Supermarkt getan hatte. Wenn allerdings Nachforschungen in Spanien keine Frau Leupold zutage fördern würden, nicht einmal eine Spur von ihr; wenn weiters ihre Tochter aus allen Wolken fallen würde, nein, von einer Reise wisse sie nichts – dann allerdings müsste die Polizei ein Verbrechen in Betracht ziehen. Der Enkel stünde unter Verdacht. Motiv? Bereicherung. Gelegenheit? Vorhanden. Er hatte zur Tatzeit kein Alibi, da war er noch im Auto gesessen … etwas drängte sich nun in den Vordergrund, etwas, das er eben selbst gedacht hatte. Das Wort »Tatzeit«. Wie kam er da drauf? Oma war vom Tisch gefallen. Ach ja? Hatte das jemand gesehen? Oma konnte genauso gut erschlagen worden sein. Die kaputte Glühbirne? Konnte auch von jemand anderem zerschlagen worden sein. Damit es so aussah … keine Sekunde hatte er daran gedacht. Bis jetzt.
Dieser Gedanke brachte eine unheimliche Wendung; eine Dimension ihres Todes, die er bis jetzt nicht wahrgenommen hatte. Wer sollte so etwas tun? Eine Beziehungstat war ausgeschlossen.Oma hatte keine Beziehungen unterhalten, nur die zu ihm. Blieb die Tat eines Verrückten.
Oder es ging um Geld. Raubmord. Dann müsste das Geld fehlen. Es war aber da. Im Safe. Manfredo spürte, wie seine Knie nachgaben. Er musste sich setzen. Das nicht. Bloß das nicht! Nach einer Weile stand er auf und ging in den Keller hinunter. Es ist ein Hirngespinst. Das Geld ist im Safe. Ich mach mich nur selber verrückt. Das Geld ist im Safe. Weil sie es dort reingelegt hat. Sie hat es hoch und heilig versprochen. Erst vor ein paar Tagen. – Aber das nutzte alles nichts. Man musste nachschauen, nicht wahr? Seine Finger zitterten, als er den Code eingab. Der Safe enthielt die altbekannten Mappen mit persönlichen Dokumenten, die urkundliche Ausbeute eines langen Lebens und ihre in blaues Leinen gebundene Dissertation über Piperazinderivate. Manfredo hatte nie verstanden, warum sie das dicke Buch ausgerechnet hier aufbewahrte … ach ja: Geld enthielt der Safe keines. Keinen Fünfhunderter, keinen Zweihunderter, keinen Hunderter. Auch keinen Fünfziger oder Zwanziger. Keinen Zehner. Nicht einmal einen einzigen dreckigen, zerknitterten, an den Faltstellen schon eingerissenen Fünfer. Nichts, gar nichts.
Manfredo sank auf den Boden unter der offenen Tür des Safes, der zwischen zwei Regalen mit leeren Marmeladegläsern in die Wand eingelassen war. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er lehnte mit dem Rücken an der gekalkten Kellerwand. Er atmete flach. Schwindel hatte ihn erfasst, dunkle Flecken geisterten durchs Gesichtsfeld. Gleich würde er das Bewusstsein verlieren … ich steigere mich rein, dachte er, verflucht noch mal, wenn er das nur ein einziges Mal am Theater hingekriegt hätte, in dieser freien Produktion als Romeo am »Rabenhof«, das war astreiner Stanislawski, der Blutdruck unten bis kurz vorm Umfallen; buchstäblich – aber halt Theater. Das hier war echt, echter ging gar nicht. Das Geld war weg. DAS GELD WAR WEG!Manfredo krümmte sich am Boden und begann zu wimmern.
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