Das unsagbar Gute
durchführte, dann wurde wenigstens kein neuer Stoff diktiert. Schott war zwar immer in der hinteren Reihe gestanden, wo sich die höflich Desinteressierten versammelten und den Chemiespinnern gern die erste Reihe überließen, aber sogar als höflich Desinteressierter konnte man nicht umhin, wenigstens optisch wahrzunehmen, was sich einen Meter weiter vorn auf dem Labortisch abspielte. Die dazugehörenden Erläuterungen in Kalchschmieds markantem Oberösterreicherisch gingen ihm beim einen Ohr hinein und beim anderen wieder hinaus. Immerhin war klar, dass die Reaktionsgefäße bei der organischen Chemie einen oder zwei Liter fassten. Und nicht zwanzig. Der Fotograf hatte bei einigen Detailaufnahmen einen Zollstock in den Vordergrund gelegt, damit man sich nicht über die tatsächlichen Dimensionen täuschte; solche Monsterapparate waren in der Schule nie aufgetaucht. Und Chemikalien hatte man damals in einem verschließbaren Schrank untergebracht. In Flaschen und Schraubdosen der Firmen »Merck« und »Fluka« – und nicht in blauen Plastikfässern, Deckeleimern und Glasballons. Und dann die Beschriftung: Da standen keine zungenbrecherischen Namen auf den Etiketten, und auch keine Abkürzungen, sondern Kombinationen wie »A 3 B« oder »N 22«. Das Ganze sah aus wie eine … Minibrauerei? Nein. Wie ein Drogenlabor. Nurnicht so dreckig und improvisiert wie die Drogenkeller, die im Fernsehen kamen, wenn sie von der Polizei ausgehoben wurden. Das alles hätte ihm schon beim Betreten des Raumes auffallen müssen, aber da war ihm ja nur die halboffene Tasche aufgefallen. Verständlich.
Das Ganze gefiel Schott gar nicht. Man soll nichts aufheben, was andere haben fallen lassen. Keine Kaugummis, keine Brieftaschen, auch keine Kameras. Man kriegt nur Schwierigkeiten. Woher das Geld kam, war jetzt auch klar. Bis zu dieser Minute hatte er, wenn der Gedanke am Horizont auftauchte, reflexhaft »Spekulation« gerufen (innerlich). Warum soll eine verschrobene Gymnasialprofessorin nicht Glück an der Börse haben und mit Hebelprodukten das große Geld machen? Es können doch nicht alle nur verloren haben! Und es können doch nicht nur finstere Mächte den großen Reibach gemacht haben, oder? Die Figur der pensionierten Chemielehrerin, jahrzehntelang unterfordert an diesem Provinzgymnasium, schreit doch geradezu nach der Rolle des heimlichen Finanzgenies, das sich – freilich im angepassten Rahmen – über die Jahre ein ansehnliches Vermögen erspekuliert; und dieses dann, na schön, mit irgendwelchen dubiosen »Umtauschgeschäften« an der Finanz vorbeijongliert. Das würde nämlich sehr klar die Riesenmenge zerknitterter Fünfziger und Hunderter erklären, aus denen dieses Vermögen materiell bestand.
Die Intelligenz dazu hatte sie ja. Eine wirklich schöne Geschichte, sehr glaubhaft. Aber zu schön. Als Redakteur hätte er sie für getürkt gehalten. Aber für ihn als Entwender des Geldes war sie unwiderstehlich, hatte sie doch den Vorteil, dass fast kein moralisches Problem entstand. Das Geld war ja nicht mühselig angespart worden, sondern mit dubiosen Methoden, die Schott nie durchschaut hatte, »gewonnen«; man sprach ja auch von Wetten, wenn die Natur dieser Transaktionen erklärt werden sollte, komplizierte Wetten, keine Frage, aber ebenWetten, bei denen, jawohl, andere das Geld verloren hatten – aber hatte die jemand mit vorgehaltener Pistole zum Wetten gezwungen?
»Doch wohl nicht«, sagte Schott zu Sami, der, solcherart angesprochen, das Köpfchen hob und ein Ohr etwas nach hinten bewegte, dann doch wieder nach vorn schob und die Augen fast ganz schloss. »Sie hätten es ja auch auf der Sparkasse lassen können, aber das war ja alles zu billig, zu gering, es war ja jeder blöd, der nicht mitgemacht hat! Aktien, Finanzpläne!« Er begann zu lachen. »Finanzpläne! Grade schlau genug zum Scheißen, aber Finanzpläne!« Er liebte es, ordinär zu werden, wenn er sich aufregte. Bianca hatte sich »diese Ausdrücke« immer verbeten, zischend scharf. Für ihn war es wie ein Stolperdraht im vollen Lauf gewesen, er fiel auf die Schnauze, die Luft geht raus und alle Lust am Leben. Sami erhob gegen seine Ausdrucksweise keine Einwände. Auch nicht gegen den Inhalt. Wer schweigt, stimmt zu, noch mehr, wenn er dabei die Augen zumacht. Auch das unterschied ihn von Bianca, die jede These ihres Ehemannes, egal bei welchem Thema, mit steigender Erbitterung bekämpft hatte. Aus reiner Wut. Oder so.
»Bianca ist kein gutes
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