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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Er erwartete, darauf angesprochen zu werden, sehnte sich geradezu danach; er wollte mit jemandem über Sami reden, egal, mit wem. »Ich suche meine Katze … haben Sie eine weiße Katze gesehen, eine mit rötlichen Flecken?« Das wollte er sagen, hören, was die Leute antworteten, er war sogar begierig auf die Geschichten über Katzen anderer Menschen. Die auch verschwunden und nach ein paar Tagen wieder aufgetaucht waren, solche Geschichten musste es geben, auch hier … und dann stand sie plötzlich vor der Tür, als ob nichts gewesen wäre  … ein gutes Ende. Keine Zettel an Zäunen. Mit dem unscharfen Schwarzweißbild einer Katze, vervielfältigt im Kopiershop. Mit eindeutigem Text: Unsere Katze ist seit dem Soundsovielten verschwunden, wer hat sie gesehen … dann folgen Beschreibungen der äußeren Erscheinung mit Details … Schott hatte solche Zettel in der Gegend schon gesehen; mit regentrotzender Plastikfolie überklebt. Viel schienen die Suchmeldungen nicht zu nutzen. Der älteste Zettel war über ein Jahr alt. Aber vielleicht waren dieTiere wieder aufgetaucht, und ihre Menschen hatten im Überschwang der Freude vergessen, die Suchmeldungen zu entfernen. Für Sami würde es keinen Zettel geben, denn er hatte kein Bild von ihm, wie ihm nun einfiel, er war nie darauf gekommen, ein Foto zu machen, wozu auch? Er hatte Sami ja jeden Tag gesehen – bis heute.
    Sami saß neben der Zufahrtsstraße, die zur Leupold-Villa führte. Genau dieses Strässchen war Schott mehrere Male entlanggegangen, entweder hatte sich Sami im Gebüsch versteckt, oder er war von woanders hierherspaziert, als Schott an anderen Orten nach ihm suchte. Sami schien auf Schott zu warten. Ein leichtes Gurren, als ihn Schott aufnahm, es war der Laut, den Schott als Begrüßung interpretierte. Sami ließ sich im Arm halten, obwohl er das nicht so gern hatte und körperliche Berührungen dieser Intensität nur duldete. Schott sprach leise; später konnte er sich nicht erinnern, was für sentimentalen Unsinn er dem Kater ins Ohr geflüstert hatte, die Worte strömten aus ihm heraus, noch mit keinem Wesen hatte er so gesprochen, auch nicht mit seiner Frau in der Jugend Maienblüte. Der Schock über Samis Verschwinden wirkte sich erst jetzt aus, als der Kater wieder da war. Erst jetzt ließ Schott die Emotionen zu, die sich bei der Suche nach dem Tier aufgestaut hatten. Der Kater hatte ihm seinen kleinen, weißen Kopf auf die Schulter gelegt und schnurrte. Schott rieb die Wange am Fell, es fühlte sich warm, weich und trocken an wie kostbares Gewebe aus Fäden unnennbarer Feinheit. Das Bild der Landschaft wurde unscharf, die Augen schwammen in Tränen, die ihm in zwei Strömen über die Backen liefen, nur zwei kühle Rinnsale, er hatte aber das Gefühl, sein ganzes Gesicht sei überschwemmt. Schott konnte nicht gleich zurück, er trat erst auf der Stelle, ging dann in kleinen Kreisen um das Gebüsch, in dem Sami auf ihn gewartet hatte.
    Und stolperte.
    Ganz leicht nur, etwas lag auf dem Boden, ohne Sami loszulassen, bückte er sich danach. Eine Kamera. Ein Tele aufgeschraubt. Die Kunststoffhülle noch nass vom Tau, sonst schien der Apparat unbeschädigt. Wie kann man einen Fotoapparat dieser Größe liegenlassen? Und warum ausgerechnet hier? Er ging zum Haus zurück, den Kater halb auf die linke Schulter gelegt, die Kamera in der rechten Hand. Noch im Gehen überschwemmte ihn ein Gefühl intensiver Dankbarkeit, wie er es nach der mit Müh und Not überstandenen Lateinmatura das letzte Mal verspürt hatte. In diesem Zustand glaubte er wie viele Menschen mit einer ähnlichen Erfahrung ganz selbstverständlich an die Existenz Gottes, das Erfahrene selbst war ja der Beweis, denn ohne das direkte Eingreifen einer höheren Macht war dieses Erfahrene nicht erklärbar. Und wie ebenfalls bei vielen Menschen (den meisten) hielt diese Überzeugung von der Existenz Gottes nicht an, sondern nahm allmählich ab; wie lange so ein Gefühl anhält, hängt von der Dauer des vorangegangenen Zustandes der Verzweiflung ab, je länger der gedauert hat, desto länger ist man danach auch von der Existenz Gottes überzeugt. Könnte man beide Zeiträume bei mehreren Personen messen, was allerdings noch nie jemand gemacht hat, so würde man die seltsame Entdeckung machen, dass diese beiden Zeiträume nicht linear, sondern durch ein Potenzgesetz verknüpft sind. Die »Zeit des Leidens« ist deutlich länger als die »Zeit des Glaubens«, aber eine Verdoppelung der

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