Das unvollendete Bildnis
fragte Poirot.
«Das haben wir überprüft, das kann ich Ihnen versichern. Natürlich hatte niemand ein so genanntes Alibi, das ist ja auch bei einem Giftmord nicht die Frage. Es besteht die Möglichkeit, dass ein Giftmörder seinem Opfer am Tag vorher irgendeine Medizin gibt, angeblich gegen Magenverstimmung, und kein Mensch kann es ihm nachweisen.»
«Aber das halten Sie in diesem Fall nicht für möglich?»
«Mr Crale erfreute sich einer ausgezeichneten Verdauung. Es stimmt, dass Mr Meredith Blake die Heilkraft seiner Säfte anpries, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Crale einen davon probierte. Wenn er es getan hätte, hätte er bestimmt darüber Witze gerissen. Außerdem, warum sollte Meredith Blake Crale, seinen Nachbarn, umbringen wollen? Sie standen ausgezeichnet miteinander. Und so war es mit den andern auch. Philip Blake war sein bester Freund, Miss Greer liebte ihn, Miss Williams… nun, sie missbilligte sein Verhalten, aber zwischen moralischer Missbilligung und einem Giftmord ist ein großer Unterschied. Die kleine Angela Warren zankte sich oft mit ihm, sie war im schlimmsten Alter, doch im Grunde hatten sich die beiden recht gern. Sie wurde sehr verwöhnt, Sie werden ja wohl gehört haben, warum. Schon das zeigt übrigens, was für ein unbeherrschter Mensch Mrs Crale war. Auf ein Kind losgehen und es auf Lebenszeit verunstalten!»
«Es könnte auch ein Beweis dafür sein», sagte Poirot nachdenklich, «dass Angela Warren Grund hatte, Caroline Crale zu grollen.»
«Vielleicht, aber nicht Amyas Crale. Mrs Crale liebte übrigens ihre kleine Schwester sehr, sie nahm sie nach dem Tod der Eltern zu sich und behandelte sie, wie ich schon erwähnte, besonders liebevoll – verwöhnte sie schrecklich, sagt man. Und das Mädchen hing offensichtlich sehr an Mrs Crale. Zur Verhandlung wurde sie nicht zugelassen – auf Mrs Crales besonderen Wunsch hin, soviel ich weiß. Aber das Mädchen war höchst unglücklich und wollte ihre Schwester durchaus im Gefängnis besuchen. Caroline Crale lehnte dies mit der Begründung ab, dass der Eindruck dem Kind schaden könnte, und sie sorgte dafür, dass Angela ins Ausland in eine Schule geschickt wurde. Miss Warren ist übrigens eine sehr bekannte Persönlichkeit geworden; sie unternimmt Reisen in unerforschte Gebiete und hält Vorträge in der Königlichen Geographischen Gesellschaft und dergleichen.»
«Und kein Mensch bringt sie mehr mit dem Mordfall in Zusammenhang?»
«Sie hat einen anderen Namen, und auch schon die Mädchennamen der beiden waren verschieden, denn sie hatten ja nicht denselben Vater.»
«War diese Miss Williams die Gouvernante der kleinen Carla oder Angela Warrens?»
«Angelas. Für das kleine Mädchen war eine Nurse da, aber es nahm jeden Tag ein paar Stunden bei Miss Williams, glaube ich.»
«Wo war das Kind zur Zeit des Mordes?»
«Zu Besuch bei seiner Großmutter, einer Lady Tressillian.»
Poirot nickte. «Aha.»
«Was die übrigen Beteiligten am Morgen des Mordtages machten, kann ich Ihnen genau sagen. Miss Greer saß nach dem Frühstück auf der Terrasse neben dem Bibliotheksfenster und hörte, wie ich schon sagte, den Streit zwischen Crale und seiner Frau. Danach ging sie mit Crale hinunter zur Schanze und saß mit ihm dort bis zum Mittagessen.
Philip Blake war nach dem Frühstück im Haus geblieben und hörte ebenfalls einen Teil des Streits mit an. Nachdem Crale und Miss Greer fortgegangen waren, las er Zeitung, bis sein Bruder ihn anrief. Dann ging er ihm entgegen. Vom Strand aus folgten sie dem Pfad, der an der Schanze vorbeiführt. Miss Greer war gerade ins Haus gegangen, um sich einen Pullover zu holen, und Mrs Crale besprach mit ihrem Mann die Vorbereitungen für Angelas Abreise ins Internat.»
«Eine freundschaftliche Unterhaltung?»
«O nein. Wie ich hörte, hat Crale ziemlich gebrüllt; er war wütend darüber, dass er mit Haushaltsdingen belästigt wurde. Ich vermute, Mrs Crale wollte alles regeln, falls es wirklich zu einem Bruch kommen sollte. Die zwei Brüder wechselten ein paar Worte mit Amyas Crale, dann kam Miss Greer zurück, nahm wieder ihre Stellung ein, Crale griff zum Pinsel und wollte die beiden offensichtlich loswerden. Die beiden Herren gingen dann hinauf zum Haus und setzten sich auf die Terrasse. Übrigens hatte sich Amyas Crale während dieser Unterhaltung beiläufig darüber beklagt, dass das Bier im Schuppen warm sei, worauf seine Frau sagte, sie würde ihm ein kaltes
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