Das unvollendete Bildnis
aber andererseits empfand er, glaube ich, eine gewisse Schadenfreude, weil Caroline litt. Sie dürfen mich jedoch nicht falsch verstehen – ich bin der Ansicht, dass er das nur in seinem Unterbewusstsein empfand, und ich glaube nicht, dass er sich je klar darüber wurde.»
«Und nach der Tragödie?»
Meredith schüttelte schmerzlich den Kopf.
«Der arme Philip. Er war völlig gebrochen. Er hatte Amyas vergöttert, es war eine Art Heldenverehrung. Amyas und ich waren gleichaltrig, Philip war zwei Jahre jünger, und er blickte schon als Kind immer zu Amyas auf. Ja, es war ein schwerer Schlag für ihn. Und er war entsetzlich bitter Caroline gegenüber.»
«Er hegte also keinen Zweifel an ihrer Schuld?»
«Keiner von uns…», antwortete Meredith.
Schweigen folgte. Dann sagte Blake anklagend:
«Es war alles vorbei, vergessen, und jetzt kommen Sie und rühren alles wieder auf…»
«Ich nicht… Caroline Crale.»
Verblüfft starrte Meredith ihn an.
«Caroline? Was soll das heißen?»
Ihn fest ansehend antwortete Poirot:
«Caroline Crale die Zweite.»
«Ach so… das Kind, die kleine Carla. Ich hatte Sie missverstanden.»
«Sie dachten, ich meine die wirkliche Caroline Crale? Sie dachten, sie würde… wie soll ich mich ausdrücken… sie würde im Grab keine Ruhe finden?»
Blake erschauerte.
«Schweigen Sie!»
«Wissen Sie, dass sie ihrer Tochter schrieb – die letzten Worte, die sie überhaupt schrieb –, dass sie unschuldig sei?»
Meredith starrte ihn an und meinte ungläubig:
«Caroline hat das geschrieben?»
«Ja… Überrascht es Sie?»
«Es würde auch Sie überraschen, wenn Sie sie im Gerichtssaal gesehen hätten. Ein armes, gehetztes, hilfloses Geschöpf, das sich nicht einmal wehrte.»
«Sie wirkte geschlagen?»
«Nein, nein, das nicht. Ich glaube, es war das Bewusstsein, dass sie den Mann, den sie liebte, getötet hatte… so kam es mir vor.»
«Sind Sie jetzt nicht mehr so überzeugt davon?»
«So etwas zu schreiben… feierlich zu schreiben angesichts des Todes…»
«Es war vielleicht eine fromme Lüge.»
«Vielleicht», entgegnete Meredith zweifelnd, «aber das sieht ihr gar nicht ähnlich.»
Poirot nickte. Carla Lemarchant hatte dasselbe gesagt. Doch Carla hatte nur Kindheitserinnerungen, während Meredith Blake Caroline gut gekannt hatte. Es war für Poirot die erste Bestätigung, dass Carla mit ihrem Glauben Recht haben könnte.
Meredith blickte ihn durchdringend an und sagte langsam:
«Wenn… wenn Caroline unschuldig war… aber es ist ja Wahnsinn! Ich kann keine andere Möglichkeit sehen… Und Sie? Was glauben Sie?»
Schweigen folgte. Schließlich sagte Poirot:
«Ich glaube noch gar nichts. Ich sammle nur Eindrücke. Wie war Caroline Crale? Wie war Amyas Crale? Wie waren die andern, die damals dabei waren? Was ist in diesen zwei Tagen geschehen? All das muss ich genau wissen, muss die Tatsachen, eine um die andere, genau untersuchen. Ihr Bruder wird mir dabei helfen. Er schickt mir einen Bericht über die Ereignisse, soweit er sich an sie erinnern kann.»
Meredith erwiderte scharf:
«Dabei wird nicht viel herauskommen. Philip ist ein sehr beschäftigter Mann. Sowie etwas vorbei ist, verliert er es aus dem Gedächtnis. Wahrscheinlich wird er sich an alles falsch erinnern.»
«Es werden natürlich Lücken in seiner Erinnerung sein, damit rechne ich.»
«Ich will Ihnen etwas sagen» – Meredith hielt abrupt inne, dann fuhr er leicht errötend fort –, «wenn Sie wollen, gebe auch ich Ihnen einen Bericht. Sie hätten dann eine Vergleichsmöglichkeit.»
«Das wäre höchst wertvoll für mich. Eine ausgezeichnete Idee!»
«Gut, ich werde es tun. Irgendwo habe ich noch alte Tagebücher. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam», er lachte verlegen, «dass ich kein Literat bin. Sie dürfen nicht zu viel von mir erwarten.»
«Der Stil spielt für mich keine Rolle. Ich möchte einfach eine Aufzählung von allem, an das Sie sich erinnern. Was jeder einzelne sagte, wie er ausgesehen hat… einfach alles, was geschehen ist. Führen Sie auch die Dinge an, die Sie für unwichtig halten. Alles kann dazu dienen, dass ich mir ein Bild zu machen vermag.»
«Ja, ich verstehe. Es muss schwierig sein, sich von Menschen und Örtlichkeiten, die man nie gesehen hat, eine Vorstellung zu machen.»
Poirot nickte.
«Ja. Nun habe ich noch eine Bitte. Alderbury ist doch das Nachbargut? Wäre es möglich, dass ich dorthin gehen könnte, um mit eigenen Augen den Schauplatz der Tragödie zu
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