Das unvollendete Bildnis
erklärte Meredith. «Nur gab es noch nicht diese Holzbank, eine eiserne stand da. Man saß hart auf ihr, aber die Aussicht war herrlich.»
In der Tat hatte man einen reizvollen, von Bäumen umrahmten Blick über die Schanze hinweg auf die schmale Bucht.
«An jenem Morgen saß ich lange hier», erklärte Meredith. «Die Bäume waren noch nicht so hoch wie jetzt, man konnte die Brustwehr der Schanze gut sehen. Dort saß Elsa, den Kopf zur Seite gewandt.»
Sie gingen weiter, bis sie unversehens vor dem schönen, alten Haus im georgianischen Stil standen. Auf dem Rasen davor waren fünfzig kleine Badekabinen aufgestellt.
«Die Jungens schlafen hier, die Mädchen im Haus», erklärte Meredith. «Im Haus werden Sie nicht viel sehen können; wie ich Ihnen schon sagte, sind alle Zimmer aufgeteilt worden. Dort war ein kleines Treibhaus, das hat man aber mittlerweile abgerissen, und dafür ist eine Loggia gebaut worden.»
Mit einem Ruck wandte er sich ab. «Wir nehmen nun einen anderen Weg. Alles taucht jetzt wieder vor mir auf… Gespenster… lauter Gespenster!»
Sie kehrten auf einem etwas längeren und steinigen Weg zu dem Damm zurück. Beide schwiegen. Poirot respektierte die Stimmung seines Begleiters.
In Handcross Manor wieder angelangt, sagte Meredith plötzlich:
«Ich habe das Bild gekauft, das Amyas malte. Der Gedanke, dass es versteigert würde und Menschen mit schmutziger Phantasie es anstarren könnten, war mir unerträglich. Amyas hielt es für die beste Arbeit, die er je gemacht hatte. Und auch ich finde, dass es ein Meisterwerk ist. Es ist so gut wie fertig, er wollte nur noch einen Tag daran arbeiten. Möchten Sie es sehen?»
«Gern.»
Blake führte ihn durch die Halle, schloss eine Tür auf, und sie traten in einen ziemlich großen, muffig riechenden Raum. Blake öffnete das Fenster, und die duftende Frühlingsluft strömte in das Zimmer.
«Oh, wie schön!», sagte er. Er blieb eine Weile am Fenster stehen und atmete die köstliche Luft ein. Poirot trat zu ihm. Die frühere Verwendung des Raumes war offensichtlich. Die Regale waren zwar leer, aber man sah noch die Spuren von Flaschen. Alles war staubbedeckt.
Meredith blickte zum Fenster hinaus.
«Wie all die Erinnerungen wieder auftauchen! Hier an dieser Stelle stand ich, habe den Duft des Jasmins eingeatmet und habe geredet und geredet – Narr, der ich war – Über meine geliebten Kräuter und Säfte.»
Während Poirot wie geistesabwesend zum Fenster hinauslangte und einen Jasminzweig abbrach, ging Meredith, als habe er sich plötzlich entschlossen, zur gegenüberliegenden Wand und nahm von einem Bild den Überzug ab.
Poirot stockte der Atem. Er hatte bisher vier Bilder von Amyas Crale gesehen, zuletzt das Stillleben bei Philip Blake, aber dies hier war das Bild, das der Maler selbst als sein Meisterwerk bezeichnet hatte, und wieder stellte Poirot fest, was für ein überragender Künstler Crale gewesen war.
Auf den ersten Blick hätte man annehmen können, es sei ein Plakat, so stark waren die Farbgegensätze: Ein Mädchen in einem kanariengelben Hemd und dunkelblauen Hosen saß im grellen Sonnenlicht auf einer grauen Mauer, die sich von einem leuchtendblauen Meer abhob. Es war das Motiv für ein Plakat.
Aber der erste Eindruck täuschte, der Glanz und die Klarheit des Lichtes waren nicht fotografisch genau wiedergegeben. Und das Mädchen… ja, das war Leben. In diesem Gesicht lebte alles, es war von überströmender Lebenskraft, und die Augen… So viel Leben! Solch leidenschaftliche Jugend! Das also hatte Amyas Crale in Elsa Greer gesehen, das hatte ihn gegenüber diesem zarten, reizenden Geschöpf, seiner Frau, blind und taub gemacht – Elsa war für ihn das Leben, die Jugend. Ein herrliches, schlankes Geschöpf, das arrogant den Kopf wandte und dessen Augen triumphierten, das einen anblickte, beobachtete… wartete…
Hercule Poirot streckte die Arme aus und rief:
«Das ist großartig… wirklich großartig…»
Meredith sagte mit verhaltener Stimme:
«Sie war so jung…»
Poirot nickte und folgte schweigend seinem Gastgeber zur Tür. Sein Interesse für Elsa Greer, die er als nächste besuchen wollte, hatte sich nun noch gesteigert. Wie hatten wohl die Jahre dieses leidenschaftliche, triumphierende, ungestüme Mädchen verändert? Er blickte sich noch einmal nach dem Bild um.
Diese Augen. Sie beobachteten ihn… sie sagten ihm etwas… Er verstand nicht, was sie ihm sagten. Würde die wirkliche Frau es ihm sagen können?
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