Das unvollendete Bildnis
entsetzlichen Eindruck machen.»
Sie stand auf.
«Nach dem Urteil schrieb sie mir einen Brief. Ich habe ihn noch keinem Menschen gezeigt, aber Sie sollen ihn lesen. Er wird dazu beitragen, dass Sie Caroline verstehen. Wenn Sie wollen, können Sie ihn auch Carla zeigen.»
Sie ging zur Tür.
«Kommen Sie bitte mit, drüben habe ich ein Porträt von Caroline.»
Zum zweiten Mal betrachtete Poirot nun ein Porträt. Als Kunstwerk war das Gemälde mittelmäßig, aber Poirot studierte es dennoch mit großem Interesse.
Er sah ein schmales, ovales Gesicht mit einem sanften, leicht schüchternen Ausdruck; ein gefühlvolles Gesicht, etwas unsicher, von dem eine große innere Schönheit ausstrahlte. In ihren Zügen lag nichts von der Kraft und Lebendigkeit ihrer Tochter; zweifellos hatte Carla Lemarchant ihre Energie und Daseinsfreude von Amyas Crale geerbt. Ihre Mutter war eine weniger positive Natur, und nun verstand Poirot, warum ein phantasievoller Mensch wie Quentin Fogg sie nicht hatte vergessen können.
Angela hatte inzwischen den Brief hervorgeholt und sagte: «Lesen Sie nun, nachdem Sie sie gesehen haben, den Brief.»
Poirot entfaltete ihn bedächtig und las, was Caroline Crale vor sechzehn Jahren geschrieben hatte:
Mein Liebling meine kleine Angela,
Du wirst schlechte Nachrichten hören und wirst traurig darüber sein, aber ich möchte dir mitteilen, dass alles gut ist. Ich habe dir nie etwas vorgelogen und tue es auch jetzt nicht, wenn ich dir sage, dass ich wir k lich glücklich bin; ich empfinde alles als richtig und fühle einen Frieden wie noch nie. Es ist alles gut, Liebling es ist alles gut. Sieh zu, dass du im Leben vorankommst, dass du E r folge erzielst; ich weiß, dass du fähig dazu bist. Blick nicht z u rück und gräme dich meinetwegen nicht. Es ist alles gut, Liebling ich gehe zu Amyas. Ich bin ganz sicher, dass wir bald beisammen sein werden; ich könnte ohne ihn nicht leben. Tu mir den einen Gefallen: sei glücklich. Ich sage dir nochmals, ich bin glücklich. Jeder muss für seine Schuld zahlen. Es ist herrlich, Frieden zu empfinden. Deine dich liebende Schwester
Caroline
Nachdem Poirot den Brief zweimal gelesen hatte, gab er ihn zurück und sagte:
«Das ist ein wirklich schöner Brief, Mademoiselle, und er ist sehr bemerkenswert, sehr bemerkenswert.»
«Caroline war eine bemerkenswerte Persönlichkeit.»
«Ja, ein außergewöhnlicher Geist…», stimmte er zu. «Sie halten diesen Brief für den Beweis ihrer Unschuld?»
«Selbstverständlich!»
«Das geht aber nicht deutlich daraus hervor.»
«Weil Caroline wusste, dass ich sie auch nicht im Traum für schuldig hielt!»
«Vielleicht… vielleicht… aber man könnte ihn auch anders verstehen, in dem Sinne, dass sie schuldig war und durch das Büßen ihrer Schuld Frieden fand.»
Der Brief passt zu ihrem Verhalten in der Verhandlung, dachte er, und zum ersten Mal tauchten Zweifel an ihrer Unschuld in ihm auf. Bisher hatten alle Beweise gegen Caroline Crale gesprochen, und jetzt wendeten sich sogar ihre eigenen Worte gegen sie. Andererseits sprach die unerschütterliche Überzeugung Angela Warrens für sie; Angela hatte sie zweifellos gut gekannt. Aber konnte ihre Überzeugung nicht auf der fanatischen Treue eines Mädchens zu der geliebten älteren Schwester beruhen?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Angela:
«Nein, Monsieur Poirot, ich weiß, dass Caroline unschuldig war.»
«Ich möchte Ihren Glauben um alles in der Welt nicht erschüttern, aber wir wollen praktisch sein. Sie sagen, Ihre Schwester sei unschuldig. Wie ist es dann also geschehen?»
Angela nickte nachdenklich und erklärte:
«Ich gebe zu, dass das schwer zu sagen ist. Ich nehme an, dass Carolines Behauptung, Amyas habe Selbstmord begangen, stimmt.»
«Sieht ihm das ähnlich?»
«Nein.»
«Aber Sie halten es nicht für unmöglich?»
«Weil, wie ich vorhin sagte, die meisten Menschen unmögliche Dinge tun, Dinge, die scheinbar gar nicht zu ihrem Charakter passen, in Wirklichkeit aber doch.»
«Sie kannten Ihren Schwager gut?»
«Ja, aber nicht so gut, wie ich Caroline kannte. Es kommt mir phantastisch vor, dass Amyas Selbstmord begangen haben soll; für ausgeschlossen halte ich es jedoch nicht. Er muss es getan haben.»
«Sehen Sie keine andere Möglichkeit?»
Angela nahm diese Frage ruhig auf.
«Oh, ich verstehe… daran habe ich noch nie gedacht. Sie meinen, jemand anders könnte ihn getötet haben? Dass es ein vorbedachter,
Weitere Kostenlose Bücher