Das unvollendete Bildnis
heftig gewesen, zu parteiisch. Poirot stellte ihn sich wieder vor: der fröhliche, reiche Mann, der eifrige Golfspieler, sein schönes Haus. Was hatte Philip Blake vor sechzehn Jahren wirklich empfunden?
Angela unterbrach seine Überlegungen.
«Ich verstehe es nicht. Wissen Sie, ich habe keine Erfahrungen in der Liebe… ich habe keine Gelegenheit dazu gehabt. Ich teilte Ihnen meine Beobachtung lediglich mit, weil sie vielleicht wichtig sein könnte.»
Zweites Buch
1
Bericht von Philip Blake
S ehr geehrter Monsieur Poirot,
ich erfülle hiermit mein Versprechen und sende Ihnen be i liegend einen Bericht über die Ereignisse im Zusamme n hang mit Amyas Crales Tod. Ich betone nochmals, dass mich nach so vielen Jahren mein Gedächtnis trügen kann, aber ich habe mich bemüht, alles nach bestem Wissen und Gewissen niede r zuschreiben. Mit besten Grüßen
Ihr
Philip Blake
Aufzeichnungen über die Ereignisse, die zu Amyas Crales Ermo r dung führten.
Meine Freundschaft mit dem Verstorbenen reicht bis in unsere Kindheit zurück. Wir waren Gutsnachbarn, und unsere Eltern waren befreundet. Amyas war zwei Jahre älter als ich. Als Kinder spielten wir in den Ferien zusammen, wir gingen aber nicht in dieselbe Schule.
Aufgrund meiner langjährigen Freundschaft mit ihm fühle ich mich besonders geeignet, Auskunft über seinen Charakter und seine Lebensanschauung zu geben. Vorausschicken möchte ich, dass für jeden Menschen, der Amyas Crale gut kannte, die Behauptung, er habe Selbstmord begangen, einfach lächerlich ist. Crale hätte sich nie das Leben genommen, dazu liebte er es viel zu sehr. Die Behauptung des Verteidigers, dass er, von Gewissensbissen gepeinigt, sich vergiftet habe, ist einfach unsinnig, denn Crale machte sich aus nichts ein Gewissen. Er und seine Frau standen sehr schlecht miteinander, und ich glaube nicht, dass es ihm Skrupel bereitet hätte, eine für ihn unglückliche Ehe zu beenden. Er war bereit, seine Frau und das Kind finanziell sicherzustellen, und ich bin überzeugt, er hätte das in sehr großzügiger Weise getan. Er war ein großzügiger Mensch, er war warmherzig und liebenswert. Er war nicht nur ein großer Künstler, er war auch ein Mann, der von seinen Freunden geliebt wurde; und soviel ich weiß, hatte er keine Feinde.
Auch Caroline Crale kannte ich seit vielen Jahren, und zwar bereits vor ihrer Heirat, da sie oft nach Alderbury zu Besuch kam. Sie war etwas neurotisch und neigte zu Wutausbrüchen. Sie galt als eine reizvolle Erscheinung, aber es war bestimmt schwer, mit ihr zu leben.
Aus ihrer Liebe zu Amyas machte sie von Anfang an kein Hehl, ich glaube aber nicht, dass Amyas sie ernsthaft liebte. Da sie jedoch oft zusammenkamen und sie, wie ich schon sagte, recht reizvoll war, verlobten sie sich schließlich. Amyas’ Freunde waren nicht sehr begeistert darüber; sie fanden, Caroline passe nicht zu ihm.
So bestand in den ersten Jahren eine gewisse Spannung zwischen Crales Frau und seinen Freunden, aber Amyas dachte als treuer Freund nicht daran, wegen seiner Frau seine Freunde aufzugeben. Nach einigen Jahren war jedoch unsere Beziehung wieder ebenso herzlich wie zuvor, und ich war ein häufiger Gast in Alderbury. Ich möchte noch hinzufügen, dass ich der Taufpate des Kindes bin, was beweist, dass Amyas mich weiterhin für seinen besten Freund hielt, und dies ermächtigt mich, für einen Menschen zu sprechen, der selbst dazu nicht mehr in der Lage ist.
Nun zu den Ereignissen: Aus meinem alten Tagebuch ersehe ich, dass ich fünf Tage vor dem Mord in Alderbury eintraf, das heißt also am 13. September. Ich bemerkte sofort eine gewisse Spannung. Miss Elsa Greer, die von Amyas gemalt wurde, weilte ebenfalls im Haus.
Ich sah Miss Greer zum ersten Mal, hatte aber schon viel über sie gehört. Einen Monat zuvor hatte Amyas mir von ihr vorgeschwärmt. Er habe ein herrliches Mädchen kennen gelernt, erzählte er, und er sprach so enthusiastisch von ihr, dass ich im Scherz zu ihm sagte: «Nimm dich in acht, alter Knabe, dass du nicht wieder den Kopf verlierst.» Aber er erwiderte, er wolle das Mädchen nur malen, er habe kein persönliches Interesse an ihr.
Ich glaubte es ihm nicht, vielmehr war ich der Ansicht, dass er bisher noch nie so verliebt gewesen war. Auch von anderer Seite hörte ich das Gleiche, und man fragte sich, was seine Frau wohl dazu sagte. Viele meinten, sie sei ja Kummer gewöhnt, während andere die Ansicht vertraten, sie sei die Eifersucht in Person und
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