Das Urteil
löste sie vorsichtig voneinander. Das untere Blatt war ein Dokument mit einem amtlichen Stempel.
Es war die Sterbeurkunde. Dr. Evelyn Y. Brant war an Lungenkrebs gestorben.
Er verließ die Kanzlei und rief seinen Vorgesetzten an. Als sie Fitch informierten, wußten sie mehr. Eine sorgfältige Lektüre der Akte durch einen anderen Rechercheur, einen früheren FBI-Agenten mit abgeschlossenem Jurastudium, offenbarte eine Reihe von Schenkungen an Organisationen wie die American Lung Association, die Coalition for a Smoke Free World, die Tobacco Task Force, die Clean Air Campaign und noch ein halbes Dutzend weitere Antiraucher-Gruppen. Einer der Gläubigeransprüche war eine Rechnung über fast zwanzigtausend Dollar für ihren letzten Krankenhausaufenthalt. Ihr Ehemann, der verstorbene Dr. Peter Brant, war auf einer alten Versicherungspolice aufgeführt. Eine rasche Durchsuchung des Registers ergab, daß sein Testament 1981 eröffnet worden war. Seine Akte fand sich auf der anderen Seite der Kanzlei. Er war im Juni 1981 im Alter von zweiundfünfzig Jahren gestorben und hatte seine geliebte Frau und seine ebenso geliebte Tochter Gabrielle, damals fünfzehn, hinterlassen. Seiner Sterbeurkunde zufolge, die von dem gleichen Arzt ausgestellt worden war, der auch die von Evelyn Brant unterschrieben hatte, war er zu Hause gestorben. Der Arzt war Onkologe.
Auch Peter Brant war dem Lungenkrebs zum Opfer gefallen. Swanson rief an, aber erst, nachdem man ihm mehrfach versichert hatte, daß alles seine Richtigkeit hatte.
Fitch nahm den Anruf in seinem Büro entgegen, allein, bei verschlossener Tür, und er nahm ihn ruhig entgegen, weil er viel zu schockiert war, um reagieren zu können. Er saß an seinem Schreibtisch, ohne Jackett, mit gelockerter Krawatte und offenen Schnürsenkeln. Er sagte nicht viel.
Marlees Eltern waren beide an Lungenkrebs gestorben.
Er notierte das tatsächlich auf einem Blatt Papier, dann malte er einen Kreis darum, mit davon abzweigenden Linien, als könnte er diese Nachricht in ein Diagramm bringen und es dann auflösen und analysieren, es irgendwie mit ihrem Versprechen, ihm ein Urteil zu liefern, in Einklang bringen.
»Sind Sie noch da, Rankin?« fragte Swanson nach einem langen Schweigen.
»Ja«, sagte Fitch, dann verstummte er abermals für eine Weile. Das Diagramm wuchs, führte aber nirgendwo hin.
»Wo ist die Frau?« fragte Swanson. Er stand in der Kälte vor dem Gerichtsgebäude von Columbia mit einem unvorstellbar kleinen Telefon am Kiefer.
»Keine Ahnung. Wir müssen sie finden.« Er sagte das ohne jede Spur von Überzeugung, und Swanson wußte, daß sie verschwunden war.
Eine weitere lange Pause.
»Was soll ich tun?« fragte Swanson.
»Hierher zurückkommen, denke ich«, sagte Fitch, dann legte er unvermittelt den Hörer auf. Die Ziffern auf seiner Digitaluhr waren verschwommen, und Fitch schloß die Augen. Er massierte seine pochenden Schläfen, drückte seinen Spitzbart hart gegen sein Kinn, dachte an einen Wutausbruch, bei dem der Schreibtisch an die Wand flog und die Telefonleitungen aus ihren Steckern gerissen wurden, überlegte es sich dann aber anders. Was er brauchte, war ein kühler Kopf.
Wenn er nicht das Gerichtsgebäude in Brand stecken oder ein paar Handgranaten ins Geschworenenzimmer werfen wollte, hatte er keine Möglichkeit, die Beratung der Geschworenen zu stoppen. Sie waren da drinnen, die letzten zwölf, mit Deputies vor der Tür. Falls sie nur langsam vorankamen und noch eine weitere Nacht isoliert in ihrem Motel verbringen mußten, dann konnte Fitch vielleicht ein Kaninchen aus dem Hut ziehen und dafür sorgen, daß das Verfahren für gescheitert erklärt wurde.
Eine Bombendrohung war eine Möglichkeit. Dann würden die Geschworenen evakuiert, abermals isoliert und an irgendeinen geheimen Ort gebracht werden, wo sie weiterberaten konnten.
Das Diagramm wurde uninteressant, und er machte statt dessen eine Liste von Möglichkeiten - verbrecherische Unternehmungen, die alle gefährlich und zum Scheitern verurteilt sein würden.
Die Uhr tickte.
Die zwölf Auserwählten - elf Schüler und ihr Lehrer. Er erhob sich langsam und ergriff die billige Keramiklampe mit beiden Händen. Konrad hatte diese Lampe schon immer entfernen wollen, weil sie auf Fitchs Schreibtisch stand, einem Ort, an dem Chaos und Gewalttätigkeit regierten.
Konrad und Pang hielten sich auf dem Flur auf und warteten auf Instruktionen. Sie wußten, daß irgend etwas furchtbar schiefgelaufen war.
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