Das Urteil
Seite. »Ich habe die Akte erst vor einer Stunde bekommen.«
»Na ja, Art und ich haben uns über den Fall unterhalten, nachdem Sie bei ihm vorbeigekommen waren, und wir haben beschlossen, daß es besser ist, wenn wir gleich von Anfang an alle Karten auf den Tisch legen. Wie ich schon sagte, wollen wir nicht, daß es irgendwelche Überraschungen gibt.«
»Was denn für Überraschungen?«
Powells Miene nahm einen ernsten Ausdruck an. »Sie haben die Anklageschrift noch nicht gesehen. Wir haben gegen Mrs. Witt noch wegen eines dritten Mordes Anklage erhoben.«
»Was denn für ein dritter Mord?«
»Ihr erster Mann starb vor neun Jahren mit dem Verdacht auf eine Überdosis. Wußten Sie das? Ich weiß nicht, warum die Medien das bisher nicht aufs Tapet gebracht haben, aber ich bin mir sicher, sie tun es noch.«
Hardy stand stumm und steif da. Er fragte sich, ob sein vormaliger Freund Art Drysdale ihm absichtlich nur die Hälfte der Ermittlungsergebnisse mitgeteilt hatte - juristisch gesehen, brachte das eigentlich keinerlei Vorteil, aber jeder wußte, daß Drysdale bereits früher seine Spielchen mit Strafverteidigern getrieben hatte, nur um sie zu verunsichern. Es war ein guter Denkzettel für Hardy - er stand tatsächlich auf der anderen Seite.
»Wie auch immer«, fuhr Powell fort, »Inspektor Terrell, das ist, glaube ich, der Beamte, der die Verhaftung durchgeführt hat? Er hat sich um eine Exhumierung bemüht und Strouts Zustimmung bekommen.» Das bezog sich auf John Strout, den Gerichtsmediziner. »Es sieht so aus, daß Mrs. Witt bei dem Todesfall ebenfalls ganz gut abgesahnt hat. So ungefähr fünfundsiebzigtausend Dollar, was damals ein ziemlicher Batzen Geld war. Terrell hat herausgefunden, daß sie mit einem Zahnarzt befreundet war, als Ned - das ist Ehemann Nummer eins - ins Gras biß. Befreundet mit diesem Zahnarzt, während die beiden noch verheiratet waren? Schlechter Stil. Jedenfalls sah es, als Ned starb, ganz nach einer Überdosis Drogen aus -also führte der Gerichtsmediziner den Niveau-A-Test durch, fand Kokain und Alkohol und befand auf eine unabsichtliche Überdosis.«
Hardy wußte, daß der medizinische Sachverständige Tests auf drei unterschiedlichen Ebenen vornahm, um in Leichen nach Giften zu suchen. Niveau C beinhaltete eine Menge zusätzlicher verschreibungspflichtiger Substanzen - Barbiturate, Methamphetamine -, ferner die Prüfung auf flüchtige Stoffe - im wesentlichen Alkohole -, was bei einem Niveau-A-Test ans Licht kam. Doch die Durchführung dieses Tests kostete auch eine ganze Stange mehr, und wenn die offensichtliche Todesursache bereits auf Niveau A festgestellt wurde, ließ es der Gerichtsmediziner in aller Regel dabei bewenden, sofern es nicht einen Ermittlungsbericht gab, der darauf hindeutete, daß irgend etwas faul war.
Hardy wußte all das, aber er mußte fragen: »Er hat nach nichts anderem gesucht?«
»Warum sollte er? Sie haben gefunden, wonach sie suchten, Kokain und Schnaps und alle Anzeichen einer Überdosis ... zum Teufel, Sie wissen schon. Und Ned hatte beides intus, also klappte man die Akte zu. Aber raten Sie mal?«
»Nicht die leiseste Ahnung.« Hardy fühlte sich wie betäubt.
»Atropin.«
»Was?«
»Atropin. Der Stechapfel. Ein tödliches Nachtschattenge wächs.«
»Und was heißt das?«
»Atropin ist der Stoff, der ihn umgebracht hat. Wir haben die Leiche auf Terrells Vermutung hin exhumiert, und schon kam's raus.«
»Also hat er sich eine Überdosis Atropin verpaßt.«
Powell schüttelte den Kopf. »Man verpaßt sich schlicht keine Überdosis Atropin. Atropin macht einen nicht high. Es ist kein Rauschmittel, aber Ned hatte jede Menge von dem Zeug intus.«
»Das ist nicht notwendigerweise Mord...«
» Ich denke, daß es das im Zusammenhang mit den beiden letzten doch ist.«
»Sie hat auch die nicht begangen.«
Powell bedachte Hardy mit seinem typischen abgeklärten Blick, der besagte, na schön, das ist die Antwort eines Straf verteidigers auf Fragen, die seinen Mandanten betreffen, aber unter uns Leuten vom Fach kennen wir doch die Wahrheit. Was er sagte, war folgendes: »Ihre Mrs. Witt ist eine schwarze Witwe, Hardy. Wir plädieren jeweils auf vorsätzlichen Mord. Auf die Todesstrafe. Hier geht es um ein Kapitalverbrechen.«
3
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein ...«
Alle Farbe war aus Jennifers Gesicht gewichen. Sie ließ einfach den Kopf hängen, schüttelte sich dann nach einem kurzen Moment, stand auf und ging hinüber zu dem Fenster
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