Das Urteil
im Be sucherzimmer, durch das sie ins Büro der Gefängniswärterin nen starrte. »Ned hat sich selbst umgebracht, vielleicht aus Versehen ... Aber jemand anders hat Larry und Matt umgebracht. Ich schwör's bei Gott ... Ich hätte doch meinen kleinen Jungen nicht töten können.«
Hardy fiel auf, daß sie über ihren Mann nicht dasselbe sagte. Er saß mit hochgezogenen Schultern da, hatte die Finger verschränkt vor sich auf dem Tisch liegen. »Erzählen Sie mir was über Anthony Alvarez«, sagte er.
Sie kämmte sich die Ponyfransen mit den Fingern zurück, zweimal, sah immer noch durchs Fenster. »Ich kenne keinen Anthony Alvarez ...«
Hardy sprach leise weiter. »Laut Polizeibericht ist er Ihr Nachbar, wohnt auf der anderen Straßenseite.«
Jetzt drehte sie sich um. »Mr. Alvarez? Ach, das ist Anthony Alvarez? Ich hab seinen Vornamen nie gehört. Was ist mit ihm?«
»Was mit ihm ist? Zu einem Gutteil ist er der Grund dafür, warum Sie hier sind.« Hardy faßte Alvarez' Aussage für sie zusammen. Während er redete, kam Jennifer an ihr Ende des Tisches zurück und setzte sich wieder hin, Hardy schräg gegenüber.
»Aber ich hab das nicht getan. Ich fange immer damit an, daß ich ein paar Querstraßen weit spaziere, um warm zu werden. Ich hätte nicht einfach das Gartentor geschlossen und zu laufen angefangen. Nicht nur hätte ich das nicht, ich habe es nicht getan.«
Hardy nickte. »Warum behauptet er Ihrer Meinung nach, daß Sie es waren? Hatten Sie Streit mit ihm, irgendwas in der Richtung?«
»Ich glaub das einfach nicht.« Jennifer holte Luft, schüttelte sich, atmete mit einem Seufzer aus. »Ich hab in den vier Jahren vielleicht hundert Worte mit dem Mann gewechselt. Ich glaube nicht, daß ich ihn erkennen würde, wenn er nicht vor seinem Haus steht. Warum tut er mir das an?«
»Keine Ahnung«, sagte Hardy, »aber fürs erste habe ich den Eindruck, daß wir uns lieber auf irgendwas konzentrieren sollten, das Ihnen helfen könnte. War jemand da, der Sie vielleicht losspazieren gesehen haben könnte? Ein anderer Nachbar?«
Jennifer schloß die Augen und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, gab dabei den Blick auf die Umrisse ihres Körpers, auf die feingeschnittenen Wangenknochen frei. Hardy wurde sich plötzlich bewußt, wie attraktiv sie selbst in der Gefängniskluft war. Volle Lippen, eine kräftige Nase. Wohlgeformte Gliedmaßen.
»Ich bin einem Mann begegnet«, sagte sie mit immer noch geschlossenen Augen. »Ein älterer Mann, vielleicht ein Schwarzer oder ein Mexikaner, jedenfalls dunkelhäutig.«
»Ich habe davon gelesen.« Hardy rückte jetzt nach vorn. »Ich glaube nicht, daß Ihnen das jemand abkauft.«
»Was wollen Sie damit sagen? Ich habe jemanden gesehen. Meiner Ansicht nach war er, ich meine, er könnte derjenige gewesen sein, der...«
Hardy schüttelte den Kopf. Sie streckte eine Hand über den Tisch nach ihm aus. »Nein, nein. Nein, hören Sie mir zu. Es war die Woche nach Weihnachten, kein Verkehr, kein Mensch in der Nähe, und da geht dieser Mann die Straße entlang, hat diesen schweren Trenchcoat an und schaut aus, als prüfe er die Hausnummern. Ich wäre um ein Haar stehengeblieben und hätte gefragt, ob ich ihm helfen kann, aber ich wollte mich nicht verspäten, also ging ich weiter.« Sie hörte zu sprechen auf, starrte Hardy an. »Es könnte wirklich er gewesen sein, derjenige ... Ich meine irgendwer muß es ja getan haben ...«
»Ist Ihnen aufgefallen, ob dieser Mann eine Waffe dabei hatte?«
»Nein, aber...«
»Haben Sie haltgemacht und gesehen, wie er in Ihre Auffahrt eingebogen ist?«
»Nein, ich hätte ja ...«
»Haben Sie irgendeine Idee, wieso jemand, der Larry überhaupt nicht persönlich kannte, ihn hätte erschießen wollen? Oder Ihren Sohn?«
Ihre Augen starrten in den leeren Raum zwischen ihnen. »Wenn Ihnen ein Ja auf Fragen wie diese einfällt, Jennifer, dann können wir uns wieder konstruktiv über den Mann unterhalten, aber ich fürchte, jetzt im Moment hilft er uns nicht weiter.«
»Aber es könnte doch ...«
»Wenn es das tut« sagte Hardy, »dann schauen wir uns die Sache noch einmal an. Abgemacht? Ich versprech's.«
Hardy hielt sich erneut vor Augen, daß er nicht hier war, um sie aus der Fassung zu bringen. Trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, er sollte ihr mitteilen, daß die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe beantragen würde. Im Grunde bliebe es nach wie vor Freemans Fall, aber es konnte nicht schaden, noch mehr Eindrücke über Jennifer zu
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