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Das Urteil

Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John T. Lescroart
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darf.«
    Villars zog ihre halbmondförmige Lesebrille tiefer zur Nasenspitze und musterte Hardy über den Brillenrand hinweg. »In diesem Land, Mr. Hardy, wird bei Mordprozessen nicht in absentia verhandelt. Ihre Mandantin bleibt.«
    So lautete das Gesetz, aber angesichts der Umstände verriet striktes Festhalten daran den Beigeschmack grundloser Grausamkeit. Dieses Argument konnte er allerdings nur schwerlich ins Feld führen. »Womöglich wird sie ohnmächtig, Euer Ehren. Das Ganze wird für sie äußerst schwierig sein.«
    Villars setzte ihre Brille anders zurecht und nahm sie dann ganz ab. »Wenn sie ohnmächtig wird, Mr. Hardy, vertagen wir die Verhandlung, bis sie sich wieder besser fühlt.«
    Wie es sich herausstellte - und dies schien das Kennzeichen dieses Prozesses zu sein -, kam es noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Ein emotionaler Ausbruch - selbst ein negativer - konnte Jennifer womöglich zumindest als menschlich erscheinen lassen. Doch sie zeigte keinerlei Reaktion. Statt dessen kam es Hardy so vor, als habe sie einen Schock erlitten, wie sie dasaß und sich alles mit trockenen Augen und ohne eine einzige Regung ansah, Hardys Arm mit der rechten Hand gepackt hielt, während die Sequenz der Fotos - die so stark vergrößert worden waren, daß sie auf die Staffelei neben dem Zeugenstand paßten - ihr und den Geschworenen vor Augen führte, wie Jennifers Junge ausgesehen hatte, nachdem er erschossen worden war.
    Die Hälfte der Geschworenen reagierte mit Tränen oder augenscheinlicher Übelkeit. Aber Jennifer saß mit der Hand auf dem Arm ihres Rechtsanwalts unbewegt da und blickte gerade vor sich hin.
    Ohne jedes Gefühl.
    Obwohl ihn Erschöpfung fast überwältigte, zwang sich Hardy dennoch zurück ins Shriners' Hospital, nachdem die Verhandlung auf morgen vertagt worden war. Beim Justizpalast war immer noch diffuser Sonnenschein zu sehen, aber er stieß unmittelbar hinter der Van Ness Street auf die Nebelbank, als er nach Westen fuhr, und mußte auf zwanzig Meilen Tempo abbremsen. In San Francisco kam der Nebel nicht auf Katzenpfoten herangeschlichen. Es war ein Blitzkrieg, der vom Pazifik kommend hereinbrach und allenfalls drei Minuten brauchte, um einen Häuserblock in eine weitgespannte Frontlinie einzubeziehen, die alles hinter sich in dicke Watte packte. Die Außentemperatur sank innerhalb einer halben Meile um zwölf Grad. Der Wind peitschte, und Scheibenwischer wurden eingeschaltet. Manche Leute verfielen plötzlich auf die Idee, von der Golden Gate Bridge zu springen.
    Hardys Auto kroch hinaus auf die Lincoln Street, der Golden Gate Park lag zu seiner Rechten. Er überlegte kurz, ob er wieder beim Shamrock haltmachen und schnell ein Bier trinken sollte, aber gestern abend hatte er das getan, und es hatte sein Leben nicht nennenswert aufgehellt, soweit ihm aufgefallen war.
    Vor der Tür zu Nancys Zimmer stand kein Wachtposten. Es War Besuchszeit, und Hardy konnte sofort ins Zimmer gehen.
    Jennifers Mutter saß halb aufrecht in ihrem Bett, hatte die Augen geschlossen. Über dem Nasenrücken klebte ein breiter Verband, und oberhalb davon waren ihre Augen geschwollene Kreise in Schwarz und Blau.
    Hardy räusperte sich, und sie bewegte sich.
    »Der Unruhestifter«, sagte sie.
    »Yeah«, stimmte er zu.
    Sie zog sich auf dem Kissen ein Stückchen höher und drehte mit einiger Mühe - unter Grimassen - den Kopf, damit sie Hardy ansehen konnte. »Ich habe Phil erzählt, daß ich vor Gericht aussagen werde, daß Sie vorbeigekommen sind.«
    Hardy nickte. »Das dachte ich mir schon.«
    »Wie geht es ihm?«
    Hardy hatte im Schwesternzimmer nachgefragt und Antwort auf die Frage bekommen. »Er schwebt in Lebensgefahr.«
    Nancy atmete aus - Erleichterung? Enttäuschung? -, holte dann aber sofort wieder tief Luft. Manche ihrer Rippen waren vielleicht gebrochen. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Was habe ich denn getan?«
    »Für mich hört sich's an, als ob Sie sich gegen jemanden verteidigt haben, der Sie sehr schwer verletzt hat.«
    »Ich weiß nicht... ich habe Angst.«
    »Vor ihm?«
    »Vor dem, was ich getan habe. Vor dem, was jetzt passieren wird.«
    »Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«
    Sie nickte, obwohl ihr jede kleinste Bewegung teuflisch weh zu tun schien. »Sie sind hiergewesen. Ich habe ihnen erzählt, was passiert ist.« Sie seufzte erneut. »Aber danach, was dann?«
    »Was meinen Sie damit?«
    Der Ansatz zu einem trockenen Lachen entlockte ihr einen schrillen Schmerzenslaut. »Es tut

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