Das Urteil
annährungsweise, Mrs. DiStep-hano, wie oft haben Sie und Ihre Tochter miteinander gesprochen?«
Nancy sah weiterhin zu Boden.
»Jede Woche? Einmal im Monat?«
»Sie hat mich immer an meinem Geburtstag angerufen. Ich habe sie immer an ihrem Geburtstag angerufen.«
Powell ließ die Sätze für sich selbst sprechen. Er nickte, schlenderte dann zurück zum Tisch der Anklagevertretung. »Einen Punkt möchte ich gerne noch etwas unter die Lupe nehmen - Mrs. DiStephano, Sie haben uns erzählt, daß Matt Jennifers ein und alles gewesen ist, daß sie ihn sogar zu sehr verwöhnt hat. Ich frage mich, ob Sie das etwas genauer ausführen können.«
Wieder wanderten Nancys Augen zu Hardy hinüber, flehten um Hilfe. »Was meinen Sie damit?«
»Ich meine, wenn Sie Jennifer und Matt nicht sehr oft zu Gesicht bekommen haben, wie Sie uns soeben erzählt haben, wie können Sie dann wissen, was sie für ihn empfunden hat oder wie sie ihn behandelt hat?«
»Na ja, als er kleiner war, als er ein Baby war ...«
»Damals war Matt Jennifers ein und alles?«
»Ja.«
»Und jetzt?«
»Ja.«
Powell versuchte immer noch, sanft und großherzig zu erscheinen. Er stellte sich ganz nahe an den Zeugenstand und sprach mit leiser Stimme. »Mrs. DiStephano, ich sehe einfach nicht, woher Sie das wissen können. Bitte helfen Sie mir weiter.«
Nancy saß fünfzehn Sekunden lang, die wie eine Stunde schienen, stumm da. Zuletzt stand Hardy auf und fragte, ob eine Frage gestellt worden sei. Powell wartete noch ein wenig länger ab, seufzte dann und sagte, er vermute nicht. Mrs. DiStephano könne den Zeugenstand wieder verlassen.
49
Schließlich betrat nach der Mittagspause die Angeklagte den Zeugenstand.
Sie trug ein braungraues Kostüm und ein helles buntes Halstuch. Hardy war sich nicht sicher, was er von dem Ensemble halten sollte - es vermittelte widersprüchliche Botschaften. Einerseits isolierte es Jennifer sogar noch weiter von dem Rest der Menschheit auf der Geschworenenbank, was nicht gerade günstig war. Jennifer brauchte das Mitgefühl der Geschworenen, nicht ihren Neid. Andererseits mußte Hardy zugeben, und die Statistiker gaben ihm recht, daß bei Strafprozessen, bei denen es um die Todesstrafe ging, eine subtile Dynamik am Werk war. Eine ganz natürliche Reaktion, nahm Hardy an, wenn auch keine allzu edle. Geschworene würden sich mutmaßlich nur dann für die Todesstrafe entscheiden, wenn sie zu der Überzeugung gelangt waren, daß die oder der Angeklagte in nachvollziehbarer Weise eine Art Monster war, eine Mißgeburt, die von allen Banden der Menschlichkeit abgeschnitten war. Zur Vermeidung dieses Eindrucks - so platt er auch sein mochte - trug Jennifers Kleidung bei. Wie sie aussah, wie sie angezogen war, war sie überaus menschlich, keinesfalls eine Unperson, mit Sicherheit kein Monster. Darüber hinaus lag etwas in ihrer Schönheit und in ihrem Auftreten, das in Amerika üblicherweise große Wertschätzung genoß. Hardy hoffte, daß die Geschworenen - vor allem die Männer - nicht dazu geneigt sein würden, mit ihrem Votum diese leidende Schönheit in einen Leichnam zu verwandeln.
Natürlich hatte seine mit ihrer Berufung in den Zeugenstand verbundene Befürchtung darin bestanden, daß sie den von ihrer Erscheinung heraufbeschworenen Bann brechen würde, sobald sie den Mund aufmachte. Und wie Hardy nur zu genau wußte, konnte hinter dieser eleganten Erscheinung eine Person aufbrausen, die selbst die ihr wohlgesinntesten Leute verprellte.
Beide hatten besprochen, wie diese Zeugenaussage ablaufen sollte, und beide waren zu dem Schluß gekommen, daß Jennifer mit wohltönender Stimme sagen sollte, was sie zu sagen hatte. Sie würde sich von ihrer besten Seite zeigen. Die Risiken begannen erst mit Powells Kreuzverhör. Einstweilen ließ Hardy es ruhig angehen.
»Jennifer, Sie sind heute hier oben im Zeugenstand, weil es um Ihr Leben geht. Gibt es irgend etwas, von dem Sie möchten, daß die Geschworenen und die Richterin es wissen?«
Sie wandte sich an die Geschworenen. »Ich weiß, daß Sie der Ansicht sind, daß das Beweismaterial ausreichte, um mich zu verurteilen.« Sie schluckte, war nervös, sah zu Hardy hinüber, der nickte. »Ich stehe eigentlich auch nicht im Zeugenstand, weil es um mein Leben geht, wie Mr. Hardy es ausdrückt. Ich stehe hier, um Ihnen zu sagen, daß ich keines der mir angelasteten Verbrechen begangen habe. Ich habe meinen Mann nicht umgebracht. Ich habe meinen Sohn ganz sicher nicht umgebracht.«
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