Das Urzeit-Monstrum
Gedanken war Boris Beckmann bis dicht an das große Fenster herangetreten. Es schloß mit der Unterseite bodennah ab, und die große Fläche erlaubte ihm einen wunderbaren Blick über die Weite des Watts.
Bei guten Sichtverhältnissen sah er sogar das Festland, und wenn die Nacht sehr klar war, dann schimmerten auch die Lichter der kleinen Ortschaften herüber, als wollten sie besondere Grüße senden.
In dieser Stunde zwischen Tag und Traum sah er im Osten keine Lichter.
Es lag auch an dem dünnen Dunst, der zwischen Himmel und Wasser hing wie eine endlose Fahne.
Er schluckte alles auf, er sorgte für ein Verwischen der Konturen und war der große Gleichmacher. Das Watt lag vor ihm.
Platt, bewegungslos. Nicht durch Wind oder Sturm aufgewühlt. Und der Wellenschlag war gering.
Das Watt war schon ein geheimnisvoller Ort. Wieviel war bereits darüber geschrieben worden! Große Dichter wie Theodor Fontane hatten sich mit ihm beschäftigt, und mochte auch noch soviel Zeit vergangen sein, es hatte seinen Reiz nicht verloren.
Nach wie vor bot es Stoff für unheimliche Geschichten, und oft genug waren Menschen, die sich bei Nacht und Nebel im Watt verirrt hatten, ertrunken, weil sie von der Hut überrascht worden waren.
Immer wieder schlugen Menschen die Warnungen in den Wind, und immer wieder gab es diese Unglücke. Dann erhielten die Geschichten wieder neue Nahrung, und man erzählte sich von den armen Seelen der Verstorbenen, die unruhig durch das Watt geisterten, schreiend und klagend, auf der Suche nach der endgültigen Ruhe.
Auch Boris kannte die Geschichten. Er hatte sie hin und wieder gehört, sich aber nicht darum gekümmert. An diesem frühen Abend allerdings betrachtete er das Watt mit anderen Augen. Er wußte genau, daß es für ihn eine besondere Bedeutung besaß, aber es schwamm noch zu sehr, um Einzelheiten herausfinden zu können.
Etwas steckte aber darin. Tief verborgen unter dem Wasser, dem Schlamm und dem Schlick, und es würde hervorkommen, dessen war er sich sicher. Noch in dieser Nacht war es soweit, und darauf wartete er.
Minutenlang stand er unbeweglich. Ein Schatten hinter der großen Scheibe, der immer mehr zusammenschmolz, je stärker sich die Dunkelheit ausbreitete und das letzte Tageslicht wegdrängte.
Es würde kommen. Es war gewachsen. Es war er, und er war es.
Verrückte Gedanken, die er allerdings nicht los wurde. Sie blieben in seinem Kopf haften, sie kriegten sogar Nachschub und festigten sich immer mehr.
Deshalb ließ er die Fläche nicht aus den Augen, über der ein ungewöhnliches Schimmern lag, was aber nichts mit irgendwelchen Geisterkräften zu tun hatte, sondern an den kleinen Eisinseln lag, die auf der Oberfläche schwammen.
»Komm!« flüsterte Boris. »Komm endlich!«
Er bewegte aufgeregt seine Hände. Er strich damit über sein Gesicht, auch über das Haar hinweg. Die Ungeduld war kaum noch zu zähmen.
Unter seinen Augen zuckte die Haut an den Wangen, der Blick war zwar starr, zugleich aber flackerte er auch, und Boris merkte, wie er immer tiefer in seinen Erwartungen versank. Er wußte, daß er nicht enttäuscht wurde.
In dieser Welt zwischen Traum und Wachsein hatte er einen Teil seines Schicksals gesehen, jetzt wollte er auch die andere Hälfte kennenlernen, und er würde mehr über sich und seine Vergangenheit erfahren. Noch immer behielt er das Watt im Auge. Nichts tat sich zunächst auf seiner Fläche. Enttäuschung breitete sich allmählich in dem einsamen Maler aus, aber sie verschwand blitzartig, als er sah, was in seiner Sichtweite geschah.
Da bewegte sich die Fläche. Es war der Kreis mehr zu ahnen, als zu sehen. Jemand schien ihn von unten her aufzurühren. Er bewegte sich, er wurde zu einem Sog, der alles in die Tiefe zerren wollte, es aber nicht konnte, weil eben nichts vorhanden war.
Dafür trat die gegenteilige Wirkung ein.
Aus dem Grund holte der Sog etwas hervor und schleuderte es wuchtig in die Luft.
Eine hohe Fontäne schoß in die Höhe. Eine Säule aus Wasser, umhüllt von einem Mantel aus Schlamm, Tang und Sand.
Boris riß den Mund auf. Kurz danach hörte er sich schreien. Er stand noch immer auf seinem Platz, jetzt drückte er sich mit seinem gesamten Gewicht gegen die Scheibe, als wollte er sie eindrücken und mit den Splittern dem Watt entgegenfliegen.
»Ja…«, stöhnte er. »Ja…«
Es war soweit. Das wußte er. Das Schicksal hatte eine neue Seite im Buch seines Lebens aufgeschlagen. Seine Augen leuchteten. Er freute sich. Er
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