Das verborgene Feuer
Sie beugte sich ihm entgegen und spürte seine Lippen an der Schläfe. Dann setzte er sich wieder auf.
»Sehe ich aus wie eine Statue? Das hatte er beabsichtigt. Er wollte einen vollkommenen Menschen in einen Vampir verwandeln, in ein Wesen von ausgezeichneten körperlichen und geistigen Gaben, das obendrein einen starken Charakter hatte.«
»Also hat er dich in einen idealen Menschen verwandelt und dann getötet?«, brachte sie mühsam hervor, ganz benommen von seinem Geruch und seiner Energie.
Er lächelte traurig. »Nein, dann hat er mich in einen Halbgott verwandelt.«
»Was?« Ob sie Carwyn zu einer Psychotherapie unter Unsterblichen würde rufen müssen?
Er schnaubte. »Das dachte er jedenfalls. Er glaubte, Vampire seien die Halbgötter der griechischen Mythologie.«
»Du willst also sagen, er war … komplett verrückt?«
»Vollkommen wahnsinnig war er.«
Sie schüttelte den Kopf und sah zu, wie er eine getrocknete Aprikose von ihrem Teller nahm.
»Und du hast zehn Jahre bei ihm gelebt?«
»Zehn Jahre als Mensch und nach der Verwandlung noch länger. Aber Lorenzo …« Ihr Frösteln ließ ihn verstummen.
Er stellte den Teller auf den Nachttisch, nahm Beatrice in die Arme und warf die Bettdecke über sie beide. »Ich weiß nicht, wie lange er Lorenzo in seiner Gewalt hatte, der als Mensch übrigens Paulo hieß.« Giovanni seufzte. »Er war ein trauriger Fall und immer scharf auf Andros’ Aufmerksamkeit. Dabei war er für meinen Vater nie gut genug.«
»Warum war er dort?«
»Vor allem als Diener, doch Vater deutete gern an, er werde auch ihn in einen Vampir verwandeln, wenn die Zeit gekommen sei. Nur um Paulo bei Laune zu halten.«
»Aber er hat ihn nicht verwandelt?«
»Mein Vater …« Giovanni hielt stirnrunzelnd inne. »Er war ein komplizierter Vampir. Grausam, schrecklich und ganz unbeirrbar. Aber auch einfühlsam. Auf seine Art war er ein Genie, und er sah etwas in Paulo. Etwas, worauf ich hätte achten sollen, ehe mein Mitleid über meine Vernunft siegte.«
»Was denn?«
»Grausamkeit. Mein Vater sagte, Paulo besitze nicht die charakterlichen Voraussetzungen für einen guten Vampir, und darum werde er ihn nicht verwandeln.«
»Wann hat Lor–, also Paulo das herausgefunden?«, fragte sie, während Giovanni ihr durchs Haar strich. Sie schmiegte sich an ihn, und er hielt sie ganz fest an sich gedrückt.
Nachdem er tief durchgeatmet hatte, antwortete er: »Fünf Jahre nach meiner Verwandlung – in der Nacht, in der ich Paulo dazu überredete, meinen Vater umzubringen.«
Beatrice schnappte nach Luft, doch Giovanni sah nur gedankenverloren und mit leerer Miene zur Decke.
»Das heißt –«
»Mir war klar, ich würde ihm nie entkommen. Er wäre immer stärker als ich, und da er wusste, dass ich Feuer handhaben konnte, würde er mich nie freilassen. Doch ich wollte nichts mit seinen Absichten zu tun haben. Allein konnte ich nicht entkommen, mit Unterstützung aber schon. Andros war tagsüber wehrlos. Wehrlos gegenüber Menschen, sofern sie wussten, wo er schlief. Es musste jemand sein, den er unter seiner Kontrolle glaubte. Und Paulo war ungemein gierig … nach Gold, nach Macht.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich habe ihm versprochen, ihn in einen Vampir zu verwandeln, wenn er Andros umbringt.«
»Gio, was hast du –«
»Und ich habe das Leben meines Vaters gegen die Unsterblichkeit meines Sohnes getauscht.«
25
Cochamó-Tal, Chile
August 2004
»Ich denke, es ist Zeit für uns, heimzukehren.«
Giovanni sah sie an und nickte wortlos, während sie an einem der vielen schäumenden Wasserfälle des Tals vorbei über saftige Wiesen ritten. Sie waren schon zwei Stunden zu Pferd unterwegs, nachdem sie an diesem Abend in seinem Bett erwacht waren.
»Ich sagte ja, wir bleiben nur, solange du magst.«
»Einen Monat sind wir schon hier.«
Er lächelte. »Ich bin beeindruckt, dass du es so lange mit mir ausgehalten hast.«
»Na ja«, gab sie augenzwinkernd zurück, »du gleichst zwar einem Siebenschläfer, aber immerhin hast du keine kalten feuchten Füße.«
Er grinste. »Gut zu wissen, wenn man bedenkt, dass ich seit über hundert Jahren neben niemandem mehr geschlafen habe.« Tatsächlich hatte er – von Caspar als kleinem Kind einmal abgesehen – schon viel länger niemandem genug getraut, um ihn in wehrlosem Zustand neben sich zu dulden, hatte aber nicht das Bedürfnis, ihr davon zu erzählen.
»Tatsächlich nicht?«
Er zuckte die Achseln und ritt weiter zum Haus
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