Das verborgene Feuer
»Andererseits – vielleicht sind sie mehr wert, als ich dachte.«
Lorenzo strich sich die Locken aus der Stirn und schnippte Asche von seinem Ärmel. Die Verbrennungen, die Giovannis Hände an seiner Kehle hinterlassen hatten, heilten bereits, aber das Jackett war ruiniert. Der Vater stand in stillem Zorn vor seinem Sohn.
»Typisch Giovanni – immer sehr gesprächig«, seufzte Lorenzo. »Ich muss wohl einen anderen Termin vereinbaren. Oder einer meiner Mitarbeiter schaut tagsüber vorbei, falls das willkommener sein sollte.«
Er zwinkerte Beatrice zu. »Egal – ich sehe meine Briefe wieder. Sie waren sowieso nur eine Leihgabe, um eure Neugier anzustacheln.«
»Raus«, sagte Giovanni.
»Und das hat offenbar besser funktioniert, als erhofft«, erklärte er in einem eigentümlichen Singsang. »Wir sehen uns. Alle drei. Bald.« Schwungvoll glitt er aus dem Saal und war schon am Ende des Flurs, wo die Treppenhaustür hinter ihm zufiel.
Giovanni atmete tief durch und wandte sich Beatrice zu. Er hatte das Adrenalin gerochen, das sie bei Lorenzos Besuch in Wellen ausgestoßen hatte, und hörte ihr Herz hämmern, doch auf ihre Tränen war er nicht vorbereitet.
»Beatrice?«
Sie würgte, wedelte mit der Hand vor dem Gesicht und wollte sich umdrehen, damit er sie nicht weinen sah, doch er legte ihr die Hände auf die Schultern, musterte sie von Kopf bis Fuß und vergewisserte sich, dass sie unversehrt war. Verletzungen waren eigentlich nicht möglich, doch ihre Reaktion erschreckte ihn.
Schließlich stieß sie hervor: »Er will mich. Er will meinen Vater. Ich kann nicht … Noch nie wurde ich so –« Sie keuchte und wollte sich von ihm lösen. »Ich muss zur Toilette. Mich übergeben.«
»Ich bring Sie hin.«
»Mich muss niemand aufs Klo begleiten«, schrie sie.
»Und ich lasse Sie nicht aus den Augen, solange er sich hier aufhält«, schrie er zurück.
Sie schob ihn von sich. »Das ist Ihre Schuld! Ich wünschte, ich wäre Ihnen nie begegnet. Er wird mich umbringen, und es ist Ihre Schuld!«
Er spürte, wie sich sein Herz zusammenzog und drauflospochen wollte, und atmete tief durch, um ruhig zu bleiben.
»Erstens will er Sie nicht umbringen. Zweitens ist nur Lorenzo im Unrecht. Machen Sie mir keine Vorwürfe –«
»Warum haben Sie ihn nicht einfach getötet?«
Er hob erstaunt die Brauen. »Sind Sie scharf darauf, bei einem Mord Komplizin zu sein? Trauen Sie sich zu, einen großen Brandfleck auf dem Boden zu erklären? Das ist ein kleiner Saal, über den Sie hier die Aufsicht führen.«
Sie wischte sich schniefend die Zornestränen aus den Augen. Ihr Magen hatte sich offenbar beruhigt. »Na ja –«
»Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden. Nicht, dass mich Ihr Blutdurst unbeeindruckt lässt, aber Sie müssen lernen, sich Ihre Schlachtfelder auszusuchen.« Er sah sie tadelnd an, trat an die Aufsichtstheke und versorgte die Pico-Briefe. Dann kehrte er an seinen Tisch zurück und legte das tibetische Manuskript wieder in die Schachtel.
»Was tun Sie da?«
»Das muss weggeräumt werden, Sie müssen abschließen, und wir müssen zu mir fahren. Auf dem Weg halten wir bei Ihnen und nehmen Ihre Großmutter mit.«
»Aber es ist noch nicht neun.«
Nun brach die Verärgerung doch aus ihm heraus. »Meinen Sie das ernst? Ich nehme an, Sie stehen noch unter Schock, Beatrice, denn ich weigere mich zu glauben, dass Sie mit mir darüber diskutieren wollen, ob Sie den Lesesaal eine Stunde früher schließen dürfen, nachdem Sie ein äußerst mächtiger, jahrhundertealter Wasservampir bedroht hat, der – wie wir eben hören mussten – Ihren Vater getötet und in einen Vampir verwandelt hat und nun eine perverse Begeisterung für Sie entwickelt zu haben scheint!«
Sie wurde blass und stürzte davon. Er hörte, wie sie sich übergab, trug seufzend die Dokumente ins Magazin, jagte über den Flur und bezog vor der Toilette Posten.
Während er wartete, dass sie sich sammelte, dachte er über das Auftauchen seines Sohns in der Bibliothek nach.
Dass er zuerst an das Mädchen gedacht hatte, war … erstaunlich gewesen, trotz seiner Reaktion darauf, wie Lorenzo auf ihren Geruch angesprungen war. Er war defensiv orientiert gewesen, als sein Sohn den Saal betrat, hatte aber intuitiv erst das Mädchen, dann die Briefe schützen wollen.
Er konnte sie noch immer auf der Toilette vor sich hin schniefen hören. Auch das Bedürfnis, für sie einzutreten und sie zu trösten, war unerwartet gewesen, obwohl es ihn aufgrund seiner
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