Das verborgene Feuer
zu tun, das sie nicht wollen – warum soll es dann so grässlich sein?«
Er sah sie finster an. »Es geht selten um psychischen Zwang, meist um reine Körperkraft. Stärke hängt für uns vor allem vom Alter ab, aber auch das Alter dessen, der einen Menschen in einen Vampir verwandelt hat, hat eine gewisse Bedeutung. Ich bin alt, aber mein Verwandler war uralt. Kombinieren Sie diese Kraft mit meiner Körperkraft zum Zeitpunkt meiner Verwandlung und mit meinem natürlichen Element – das macht mich sehr stark.
Lorenzo war als Mensch nie so stark, wie ich es einst war, doch mein Blut war sehr stark – wegen des Mannes, der aus mir einen Vampir gemacht hat. Dieses Blut ist auf Lorenzo übergegangen. Außerdem beherrscht er den Einsatz seines Elements virtuos, obwohl er nie so stark sein wird wie ich.
Ihr Vater – obwohl nach menschlichen Maßstäben nun sehr stark – wäre uns beiden hoffnungslos unterlegen. Im Kampf könnte er Lorenzo nie besiegen, und ich bin mir sicher, dass mein Sohn ihn auf jede erdenkliche Weise gequält hat, wenn Ihr Vater nicht genau das tat, was er von ihm verlangte.«
Er sah sie vor Schreck große Augen bekommen, wollte das Gesagte aber nicht abschwächen. »Sie haben keine Vorstellung, wie viel Macht er über ihn hätte, vor allem in den ersten Jahren, in denen er den Blutdurst zu beherrschen lernt. Ihr Vater ist fast fünfhundert Jahre jünger als der, der ihn in einen Vampir verwandelt hat. Und er wäre womöglich für alle Zeit unter seiner Herrschaft geblieben. Sie dürfen ihm nicht vorwerfen, geflohen zu sein.«
Sie schien in ihrem Sitz noch kleiner zu werden. »Und der Mann, der Sie zum Vampir gemacht hat?«, flüsterte sie beinahe. »Ist er – ich meine, war er so gut wie Carwyn?«
Giovanni runzelte die Stirn. »Mein Vater war ein schwieriger Vampir. Und er ist tot und hat darum keinen Einfluss mehr auf mich.«
»Oh.«
»Gibt es einen angemessenen Zorn, mein Sohn?«
»Aristoteles sagt: ›Jeder darf zornig werden, aber es soll der richtigen Person gegenüber im richtigen Maße zur richtigen Zeit geschehen. Der richtigen Absichten wegen auf richtige Art zornig zu werden, ist dem Durchschnittsmenschen dagegen nicht gegeben.‹«
»Und bist du der ›Durchschnittsmensch‹, von dem der Philosoph spricht?«
»Nein, Vater – ich bin besser als andere Sterbliche und werde immer besser.«
»Darum musst du deinen Zorn meistern, damit du ihn
immer
unter Kontrolle hast.«
»Ja, Vater.«
»Giovanni?«
»Hmm?« Seine Augen verloren den leeren Blick und richteten sich wieder auf Beatrice.
»Sie haben die Abzweigung zu Isadora verpasst.«
Er wendete rasch und bog nach rechts in die Straße ein, an der er vorbeigefahren war. Als er vor dem kleinen Haus hielt, sah er alle Lampen im ersten Stock brennen. Er machte den Motor aus, ging zur Beifahrertür und half Beatrice beim Aussteigen. Auf halbem Weg zum Haus bemerkte er den Blutgeruch, drehte sich zu Beatrice um und drängte sie zurück auf den Mustang zu.
»Gehen Sie zum Wagen zurück«, sagte er entschlossen.
»Was? Nein! Was zum Teufel –« Sie bekam große Augen, als sie sein Gesicht sah, und rannte zum Haus, doch Giovanni war schneller und vertrat ihr den Weg.
»Oma!«
16
Houston, Texas
April 2004
»Lass mich rein!« Beatrice trommelte auf seine Brust ein. »Lass mich rein, du Scheusal. Isadora!«
»Sei still. Der Blutgeruch ist nicht stark«, fauchte er. »Warte, bis ich nachgesehen habe.«
»Oma?« Sie begann zu weinen und wollte noch immer an ihm vorbei, doch er hielt sie mit eiserner Kraft fest. Sie war außer sich und rechnete mit dem Schlimmsten.
»Beatrice, hast du dein Handy dabei?«
Sie wollte Giovanni schlagen, war aber vollauf damit beschäftigt, sich zu befreien, um ins Haus zu kommen.
»Beruhige dich. Du musst diese Nummer anrufen.« Er rasselte Zahlen herunter, doch sie hörte noch immer nicht zu.
»Du blöder, widerlicher Vampir!« Sie versuchte sich loszureißen. »Lass mich rein. Ruf selbst an und –« Plötzlich wurde ihr bewusst, dass möglicherweise weitere Menschen oder Vampire im Haus waren, und sie erstarrte.
»Was hörst du?«, flüsterte sie.
»Nichts Verdächtiges, und ich spüre auch niemanden. Ich rieche zwar Blut, aber der Puls deiner Großmutter klingt gut; sie atmet langsam und regelmäßig. Hast du dich endlich beruhigt?«
Sie atmete tief durch, nickte und blinzelte sich die Tränen aus den Augen.
Er ließ sie los, drehte an dem Türknauf und trat ins Haus. Beatrice sah im
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