Das verborgene Kind
legte das Handy weg, setzte sich und dachte über sein Gespräch mit Im nach. Was für ein Durcheinander! Und wer hatte nun recht? Er konnte Jules’ Standpunkt verstehen: Abgesehen von der sehr realen Sorge wegen der Entfernung von der Praxis konnte er auch nachvollziehen, warum Jules vielleicht nicht ganz so nah bei Milo und Lottie leben wollte.
»Überleg doch mal!«, hatte er gesagt. »Würdest du so nahe bei Jules’ Eltern wohnen wollen? Ich weiß, dass sie in Schottland leben, daher ist das aus allen möglichen Gründen nicht wirklich eine Option, aber denk mal darüber nach, Im!«
»Milo und Lottie sind aber nicht meine Eltern«, hatte sie stur zurückgegeben. »Das ist was anderes.«
»Nein, ist es nicht, nicht wirklich«, hatte er erwidert. »Sei doch ehrlich! Lottie hat auf ihre besondere, hippiehafte Art immer wie eine Mutter für uns gesorgt. Und Milo ist die Vaterfigur in unserem Leben. Und genauso sieht Jules die beiden auch. Aber ich weiß, wie sehr du an dem Sommerhaus hängst und Lottie und Milo um dich haben möchtest ...«
Er hatte versucht, fair zu sein und Imogen beide Seiten aufzuzeigen. Sie tat ihm wirklich leid. Es musste ein furchtbarer Schock für sie gewesen sein, dass Jules sich ihren Wünschen so energisch widersetzte. Und dann das ganze Zeug über Nick; dass er Geld brauchte, weil er seine Prämie nicht bekommen hatte. Nun ja, wenigstens steckte keine andere Frau dahinter, obwohl Matt den Verdacht hegte, dass Alice eher eine außereheliche Affäre tolerieren würde als ein echtes Finanzproblem. Einen Statusverlust würde sie niemals hinnehmen.
Natürlich sah er, dass es eine perfekte Lösung für alle wäre, wenn Jules das Sommerhaus kaufte. Doch warum sollte Jules für Nick geopfert werden?
»Wie soll ich den beiden das bloß sagen?«, hatte Imogen gequält ausgerufen. »Milo denkt sicher, dass er meinen Traum wahr werden lässt und damit Nicks Problem lösen wird. Und Lottie wird sehr verletzt darüber sein, dass Jules nicht so nahe bei ihnen wohnen will.«
»Hey, jetzt komm mal wieder runter!«, hatte er gemeint. »Versuch doch mal, rational zu bleiben! Weder Milo noch Lottie wird es im Geringsten erstaunen, dass Jules sich wegen der Hin- und Herfahrerei Gedanken macht. Das ist eine scheußliche Strecke, besonders bei schlechtem Wetter. Sie sind vielleicht enttäuscht, aber es wird in Ordnung für sie sein. Was das Geld angeht, das Milo für Nick auftreiben muss, da bin ich mir nicht so sicher; aber das ist nicht dein Problem, sondern eine Sache zwischen Milo und Nick. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Milos Bank angesichts der Immobilien, auf denen er sitzt, Probleme machen wird. Er kann das Sommerhaus ja trotzdem verkaufen.«
»Das ist so grausam«, hatte sie mit verzagter Stimme gesagt. »Es war, als sei mein Traum Wirklichkeit geworden. Als Jules ihn mir einfach abgeschlagen hat, konnte ich es nicht glauben. Er hat keine Sekunde daran gedacht, was es mir bedeuten könnte, die ganze Familie um mich und Rosie zu haben.«
Und das ist das eigentliche Problem, dachte Matt. Imogen ist verletzt, weil Jules ihre Gefühle nicht würdigt, und Jules ist verärgert, weil es aussieht, als mache sich Im keine Gedanken um ihn. Gott, was für ein Durcheinander! All diese Missverständnisse und verletzten Gefühle! Diese emotionale Erpressung, die mit Beziehungen einhergeht. Bin ich froh, dass ich nichts damit zu tun habe!, sinnierte er.
Er dachte an seine Mutter, die nie vollkommen betrunken, aber auch nie ganz nüchtern gewesen war, sodass er sich kaum getraut hatte, Freunde mit nach Hause zu bringen. Hin und wieder stellte er sich vor, eine enge, liebevolle Beziehung würde seine Sehnsucht stillen und seine quälende Einsamkeit zerstreuen. Aber so hatte es nie funktioniert. Stattdessen blockierte sein Gefühl, unvollständig zu sein, seine Fähigkeit zu lieben und sich vollkommen zu öffnen; und seine scheinbare Selbstgenügsamkeit verwirrte Frauen anfangs und irritierte sie dann. Jedes Mal sagte er sich, dass es anders werden würde. Dieses Mal würde er es schaffen, sich zu öffnen, ehrlich über diese seltsamen Empfindungen und die Albträume zu sprechen, die ihn niederdrückten – aber bisher hatte er noch keine Frau so nahe an sich herangelassen. Er hatte sich noch nie emotional sicher genug gefühlt, um so viel zu riskieren, dass Liebe in Verachtung umschlagen könnte – und außerdem wollte er nicht gleich seine Schwächen eingestehen, wenn er eine wichtige
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