Das verborgene Kind
wo – auf einer seiner Auslandsreisen? – es wohl aufgenommen worden war und von wem; und er fragte sich, warum jemand es seiner Mutter ohne eine Nachricht zugeschickt hatte. Eine unerklärliche Angst ergriff Besitz von ihm, und seine Gedanken verwirrten sich.
Als sein Handy ihm signalisierte, dass er eine SMS hatte, griff er erleichtert nach dem Telefon. Die Nachricht stammte von Lottie, und sie war kurz.
»Bist du okay?«
Er starrte darauf. Nicht zum ersten Mal trat Lottie den Beweis dafür an, dass sie das zweite Gesicht besaß. Im und er hatten sie oft damit aufgezogen. Irgendwie machte die SMS ihn ruhiger; sie bestätigte ihn in seiner Entscheidung, London eine Zeit lang zu verlassen und eine Weile bei seiner Familie zu verbringen. Er steckte das Foto wieder in den Umschlag und untersuchte noch einmal die Briefmarke und den Stempel, konnte aber nichts erkennen. Dann schrieb er Lottie zurück.
Sein Entschluss stand fest: Er würde nächste Woche ins Exmoor fahren.
14. Kapitel
I m März folgten Hagelschauer auf heftigen Schneefall. Der Schnee ließ sich auf den hohen, kahlen Hügeln und auf den dürren, nackten Ästen nieder; er wehte in die Senken und füllte die Täler. Sogar in Bossington hielt sich die weiße Pracht über Stunden.
Matt sah aus seinem Dachfenster und staunte über den magischen Schein. Die Landschaft wirkte wie ein Wunderland. Wenn Wölfe über die hohen, schimmernden Hänge des Dunkery Hill gestreift wären, wären sie nicht fehl am Platz gewesen; Trolle hätten in eisigen Höhlen tief in den Culbone Woods hausen können, während sich hier im Garten Kay und Gerda aus dem Märchen Die Schneekönigin eine Schneeballschlacht lieferten. Es war, als könne sich jeden Moment die Tür öffnen und eine Gestalt aus einer Geschichte von Andersen erscheine auf der Schwelle, eine Gestalt im warmen Umhang und mit schweren Holzschuhen. Jenseits der dicht gedrängten Dächer von Bossington, auf der anderen Seite der silbrigen Wasserfläche, die so flach wie ein Mühlenteich dalag, glitzerten die Berge von Wales im Sonnenschein des späten Nachmittags weiß und von tiefblauen Schatten durchzogen.
Mit einem Alarmschrei erhob sich die Amsel aus dem Gebüsch, flog in eine der Buchen und löste den Schnee, der mit einem leisen »Plopp« auf das Dach der Pagode fiel. Matt beobachtete, wie Pud aus dem Gestrüpp der Rhododendren auftauchte. Sein Fell bildete einen warmen goldenen Farbfleck in dem kalten Weiß. Bestimmt hatte er die Amsel aufgescheucht, und jetzt lief er ins warme Haus, um einen Hundekuchen zu ergattern. Seine Spuren verliefen kreuz und quer über den verschneiten Boden, als er von seinem Weg abwich, um den niedergetretenen Bereich um den Vogeltisch zu inspizieren. Doch jetzt machte er sich wieder auf den Weg in Richtung Küche und entschwand seinem Blick.
Matt zitterte vor Kälte. Obwohl Lottie ihm in dem Versuch, die beiden nebeneinanderliegenden Dachzimmer zu wärmen, einen Elektroradiator besorgt hatte, war es hier, hoch oben unter dem Dach, bitterkalt. Er ging in den Salon hinunter, wo der Holzofen bullerte und Venetia mit Milo zusammensaß.
»Hallo«, sagte Matt zu Venetia. »Ich habe dich kommen sehen und dachte, dass es sehr tapfer von dir ist, dich nach draußen zu wagen.«
Sie hielt ihm die Wange zum Kuss hin. »Die Straßen sind ziemlich frei«, meinte sie, »obwohl ich zugeben muss, dass ich lieber über die Bossington Lane gefahren bin, als es über Allerford zu riskieren. Aber im Dorf liegt kaum noch Schnee. Ihr liegt hier so viel höher. Du meine Güte, Matt, du bist ja eiskalt. Komm, setz dich zu mir!«
Sie schob Lotties Strickzeug beiseite und rutschte auf dem Sofa weiter, sodass er direkt am Feuer zu sitzen kam. Er grinste über Milos Miene.
»Kalt!«, ereiferte sich der alte Soldat wie aufs Stichwort. »Das ist nicht kalt. Catterick Camp damals, so etwas nenne ich kalt. Wenn man morgens aufwachte, waren die Fenster von innen mit Eis bedeckt. Das Wasser gefror in den Rohren. Die Erde war hart wie Stein. Wenn heute ein paar Schneeflocken fallen, müssen die Heizungen den ganzen Tag laufen, und abends braucht man eine Wärmflasche.« Er schnaubte verächtlich.
Venetia berührte Matts Knie. »Natürlich ist Milo kein Mensch«, meinte sie bedauernd, »aber er kann nichts dafür, der arme Schatz. Lottie kocht uns einen schönen Tee, der wird dich wärmen. Ach, da ist ja der liebe Pud.«
Der Hund lief schwanzwedelnd herbei. Offensichtlich war er mit einem Handtuch
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