Das verborgene Kind
Beziehung einging. Wenn er Glück hatte, würde er vielleicht eines Tages eine Frau kennenlernen, zu der er eine so starke Bindung aufbauen könnte, dass es ihm leichtfallen würde, ihr davon zu erzählen – aber bis jetzt war das nicht geschehen ...
Wie aufs Stichwort klingelte erneut das Telefon, und er warf einen Blick auf das Display: Annabel. Er stöhnte auf, zögerte und nahm das Gespräch an.
»Hi«, sagte er, bemüht, seine Stimme besonders ruhig klingen zu lassen, um weder den Eindruck von Eifer noch von Desinteresse zu erwecken. »Wie war die Party?«
»Du hättest mitkommen sollen«, erklärte sie ihm. Ihre eigene Stimme klang teils fröhlich, teils vorwurfsvoll. »Es hätte dir gefallen. Wir hatten eine Menge Spaß.«
»Großartig.« Jetzt vermittelte sein Ton Freude darüber, dass sie sich gut unterhalten hatte, aber auch die Weigerung, sich zu einem Ausdruck des Bedauerns verleiten zu lassen. »Das ist schön.«
»Das Problem mit diesen Buchvorstellungen am frühen Abend ist, dass man sich hinterher ein wenig flau fühlt. Verstehst du? Man ist immer noch aufgekratzt, aber weiß nicht, was man mit sich anfangen soll.«
Fall nicht darauf rein!, ermahnte sich Matt. Bloß nicht!
»Sind alle anderen schon weg?« Er klang interessiert, aber nicht besorgt und gratulierte sich selbst dazu, dass er in der Lage war, einen freundlichen Ton zu wahren.
»Na ja, nicht ganz.« Offenbar gab sie das nicht gern zu und war leicht verärgert darüber, dass er nicht auf ihren Wink eingegangen war und sie weder zu sich eingeladen noch vorgeschlagen hatte, sie sollten sich irgendwo treffen. »Ein paar von ihnen gehen noch essen, glaube ich.«
»Klingt nach einer tollen Idee«, meinte er begeistert. »Ich würde an deiner Stelle mitgehen.«
»Warum stößt du nicht zu uns?« Sie versuchte, beiläufig zu klingen. »Das wäre sicher lustig.«
»Ich?« Er schützte Überraschung vor. »Das ist ein wenig kurzfristig. Ich arbeite an einem Artikel für den Reiseteil der Times und bin damit sowieso schon spät dran.«
»Das überrascht mich nicht«, entgegnete sie. Jetzt war sie gekränkt und bemühte sich nicht, es zu verbergen. »Ich habe schon früher versucht, dich anzurufen, aber bei dir war ewig besetzt.«
»Meine Schwester Imogen«, antwortete er knapp. Es gefiel ihm nicht, dass er Annabel gegenüber Erklärungen abgeben sollte. »Ein kleines Problem, nichts weiter. Das hat mich lange beschäftigt.«
»Na ja, dann will ich dich nicht aufhalten.« Sie klang spröde und verletzt. »Bis Samstag.«
Sogar in ihrem Ärger konnte sie es nicht lassen, ihn an ihr nächstes Treffen zu erinnern. Er fühlte sich zugleich schuldig und verärgert.
»Klar, bis dann«, sagte er fröhlich. »Einen schönen Restabend noch. Bye.«
Er legte das Telefon weg. Hätte Annabel vor Imogens Anruf mit ihm gesprochen, hätte er sich womöglich noch mit ihr getroffen. Aber Ims Probleme hatten seine tiefsten Ängste bezüglich fester Beziehungen wieder aufflammen lassen, und er hatte entsprechend reagiert. Annabel war sehr hinter ihm her, obwohl sie es behutsam angehen ließ, und er war misstrauisch. Da er Ostern für längere Zeit ins Exmoor fahren würde, konnte er sie noch eine Weile auf Abstand halten. Er mochte Annabel, wollte sich aber einfach nicht überstürzt in eine feste Beziehung drängen lassen. Obwohl es schade war, dass er sich nirgendwo hatte einmieten können, freute er sich auf einen Aufenthalt im High House – und jetzt sah es aus, als könne er sich vielleicht sogar nützlich machen; zumindest könnte er für Imogen da sein und den guten Jules ein wenig aufheitern.
Frustriert seufzte Matt. Was er wirklich brauchte, war eine Inspiration, ein paar aufregende Ideen für das neue Buch. Dieses Gefühl, nur halb lebendig und geistig wie verkrüppelt zu sein, war vernichtend und wirkte sich auf alle Bereiche seines Lebens aus. Deswegen hatte er auch weder zu der Buchvorstellung gehen noch Annabel nachher treffen wollen. Dort wäre er auf zu viele Freunde und Kollegen gestoßen, die ihm die übliche Frage nach seiner Arbeit stellten – oder taktvoll schwiegen. So viele Menschen lauerten darauf zu erfahren, ob er es schaffen würde, seinen großen Erfolg zu wiederholen, oder ob alles nur ein Strohfeuer gewesen war.
Lottie hatte mit Recht einen Tapetenwechsel vorgeschlagen; und vielleicht hatte sie auch recht damit, dass der Tod eines nahen Angehörigen verborgene Ängste an die Oberfläche spülte. Erst kürzlich hatten die
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