Das verborgene Kind
Albträume wieder begonnen, und das überwältigende Gefühl von Einsamkeit und Verlust, das ihn schon sein ganzes Leben lang begleitete und das er durch das Schreiben von Epiphanie und den anschließenden Erfolg verdrängt hatte, war stärker denn je zurückgekehrt.
Bei der Erinnerung an seine Mutter, daran, wie sie durch ihren Kummer seelisch verkrüppelt war, stieg eine große Trauer in ihm auf.
»Sie muss Dad über alles geliebt haben«, hatte er einmal beinahe verbittert zu Lottie gesagt.
Es machte ihn betroffen, dass weder er noch Imogen diesen furchtbaren Verlust irgendwie wettmachen konnten.
»Ja«, hatte sie geantwortet. »Ja, das hat sie, Matt. Aber sie litt auch nach Imogens Geburt unter einer postnatalen Depression, und als dann noch Toms Tod dazukam, konnte sie sich davon nicht mehr erholen. Ein doppelter Schlag. Aber wir müssen an der Hoffnung festhalten, dass es ihr eines Tages besser gehen wird.«
Dazu war es nie gekommen – aber solange sie lebte, hatte noch Hoffnung bestanden. Jetzt war es zu spät. Die Trauer, die er normalerweise unterdrückte, stieg in ihm auf und machte ihm das Herz schwer. Das war alles so eine Verschwendung gewesen, so eine verdammte Vergeudung. Sogar die Geburt ihrer Enkeltochter hatte Helen nur durch einen Nebel aus Alkohol und Schmerz wahrgenommen; sie hatte distanziert, beinahe desinteressiert gewirkt. Er war furchtbar enttäuscht gewesen. »Vielleicht«, hatte er hoffnungsvoll zu Lottie gemeint, »wird das etwas auslösen«, – und hatte sich auch an Ims Stelle verletzt gefühlt. Imogen selbst hatte es wie üblich lässig genommen.
»Sie war nie wie eine richtige Mutter«, hatte sie ihm ins Gedächtnis gerufen. »Sie kann nichts dagegen tun, und ich bin daran gewöhnt. Jules’ Mum und Dad sind begeistert, und Lottie und Milo sind vor Freude ganz aus dem Häuschen.« Sie hatte die Achseln gezuckt. »Wir haben mehr Glück als viele andere Menschen, Matt.«
Er wusste, dass das stimmte, aber trotzdem war da dieser innere Kampf gewesen. Matt konnte sich, wenn auch sehr verschwommen, an eine andere Helen erinnern; an eine, die gelacht, ihnen vorgesungen und sie hochgehoben hatte. Es schien einen ganzen Bereich seines Lebens zu geben, der knapp unterhalb seiner Bewusstseinsschwelle lag und an den er sich ständig angestrengt zu erinnern versuchte; ein Leben, in dem ihre Mutter ein fröhlicher, glücklicher Mensch gewesen war, der sie umarmt und geküsst und alberne Spiele mit ihnen gespielt hatte. Diese schattenhaften Erinnerungen verwirrten ihn, denn gleich nach Imogens Geburt hatte die Depression seiner Mutter eingesetzt und sein Vater war ums Leben gekommen. Dennoch quälten sie ihn weiter, diese kurz vor seinem inneren Auge aufblitzenden Eindrücke, diese Bilder von einer glücklichen Frau, die mit ihren Kindern spielte. Während seiner gesamten Kindheit und Jugend hatte er sie sich zurückgewünscht.
»Werde endlich erwachsen!«, wies er sich jetzt scharf zurecht. »Werde erwachsen, und fang endlich an zu leben!«
Ungeduldig sprang er auf und warf dabei Bücher und Papiere von dem kleinen Tisch, der neben dem Sessel stand. Er bückte sich, um sie aufzuheben, und sah ein paar Umschläge: die noch ungeöffnete Morgenpost. Alle drei Kuverts waren an die Adresse seiner Mutter in Blackheath gerichtet und von der Post nachgeschickt worden. Er betrachtete sie ohne besonderes Interesse. Einer enthielt einen Prospekt über Isolierverglasung, einer stammte von einer Wohltätigkeitsorganisation. Der dritte Umschlag war von Hand beschriftet, und Matt riss ihn auf. Darin befand sich ein weiterer, adressiert an seine Mutter und die Nachrichtenagentur, bei der sein Vater angestellt gewesen war. Er war mit dem Vermerk »Bitte weiterleiten« versehen. Neugierig öffnete er ihn, aber darin befand sich nichts weiter als ein Foto.
Er hielt es in der Hand und sah in sein eigenes lachendes Gesicht; sein Magen zog sich zusammen, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Matt drehte das Foto um, aber auch auf der Rückseite stand nichts. Er schaute in den Umschlag, schüttelte ihn, aber es lag nichts weiter darin. Der Umschlag trug eine ausländische Briefmarke, die er nicht erkannte, und der Poststempel war verwischt und nicht zu entziffern. Noch einmal betrachtete er aufmerksam das Foto. Die Kamera hatte sich ein Stück hinter ihm befunden. Er hatte den Kopf gedreht, sodass sein Kinn die Schulter berührte, und dem Fotografen zugelächelt.
Matt versuchte sich zu erinnern, wann und
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