Das verborgene Kind
vorbeifuhren. »Dann sind wir alle da.«
Triumphierend lächelte sie in sich hinein: Es zahlte sich bei Milo immer aus, tapfer zu sein und sich nichts anmerken zu lassen; es weckte sein schlechtes Gewissen und zog im Allgemeinen ein kleines Zugeständnis nach sich.
»Wunderbar!«, rief sie aus, als er vor ihrem kleinen Haus anhielt. »Das ist jetzt wirklich etwas, auf das man sich freuen kann. Ich sehe die Jungs so gern.« Sie beugte sich vor, um ihn leicht auf die Wange zu küssen. »Vielen, vielen Dank, Schatz. Und jetzt fahr zu! Beeil dich!«
Bevor er antworten konnte, hüpfte sie elegant aus dem Wagen und knallte die Tür zu. Seine leicht verdrossene Miene angesichts ihres abrupten Abgangs verschaffte ihr einen Hauch von Genugtuung, und sie lächelte immer noch, als sie die Eingangstür aufschloss. Doch ihre Befriedigung dauerte nur an, bis sie allein in ihrer schicken Diele stand, das Licht anknipste und in die Stille hineinlauschte. Da verblasste ihr Lächeln. Sie glitt aus dem Mantel, warf ihn übers Treppengeländer und ging in die Küche, um sich einen Drink einzuschenken.
20. Kapitel
I mogen wachte früh auf. Sie lag ganz still, lauschte auf Geräusche von Rosie und war sich Jules’ Gegenwart äußerst bewusst. Er hatte sich zusammengerollt und drehte ihr den Rücken zu. Sie sehnte sich danach, seine Schulter zu berühren und zu spüren, wie er die Arme um sie legte, und wollte sein Kinn, das früh am Morgen kratzig war, an ihrer Wange fühlen. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie unbeschreiblich einsam sie sein würde, wenn sie von diesem warmen Strom der Zuneigung und Kameradschaft abgeschnitten war; doch sie wusste, dass sie daran ebenso viel Schuld trug wie er. Keiner von ihnen war bereit, nachzugeben und seinen Stolz und seine Verletztheit einzugestehen.
Vorsichtig wandte sie den Kopf, um ihn anzusehen und zu beobachten, wie er regelmäßig ein- und ausatmete. Wie würde sie reagieren, wenn er sich jetzt umdrehen, sich schläfrig auf den Rücken wälzen und den Arm ausstrecken würde, um sie an sich zu ziehen? Würde sie steif daliegen wie bei den ein, zwei Gelegenheiten, bei denen er versucht hatte, sich mit ihr zu versöhnen, oder würde sie sich entspannt an ihn schmiegen? Wieder starrte Imogen unglücklich an die Decke. Sie wollte, dass alles wieder in Ordnung kam, aber ein winziger, starrköpfiger Dämon in ihrem Inneren sperrte sich und flüsterte ihr ein, dass das alles nicht fair sei, dass Jules sich egoistisch und rücksichtslos benehme und es schon einer deutlichen Geste seinerseits bedürfe, einer Würdigung ihrer Selbstlosigkeit, damit sie bereit wäre, sich wieder normal zu benehmen. Bisher war Jules ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie das Sommerhaus nicht kaufen würden. Er zeigte weder echte Gewissensbisse noch Verständnis für sie oder ihre Empfindungen. Nicht einmal am Vorabend, als sie Jules erzählt hatte, dass Matt das Cottage kaufen werde, hatte er eine Regung gezeigt oder sich Gedanken darüber gemacht, dass es für sie schwierig sein könnte, wenn ihr Bruder das Haus besaß, das sie so sehr liebte. Nein. Er hatte nur durchblicken lassen, dann sei das Problem ja gelöst und sie solle sich doch freuen.
»Sollen wir uns denn jetzt Billy Websters Scheune ansehen, oder was?«, hatte er dann ziemlich abrupt gefragt. »Die Zeit wird knapp. Oder hast du andere Ideen?«
In seiner Stimme hatte eine Kühle, beinahe Gleichgültigkeit gelegen, als mache es ihm wirklich nicht viel aus. Obwohl sie tief im Inneren wusste, dass das nicht stimmte, war sie trotzdem nicht in der Lage gewesen, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und etwas Wärme zwischen ihnen aufkommen zu lassen.
»Wahrscheinlich gibt es keine Alternative«, hatte sie eisig zurückgegeben. »Ich sehe sie mir morgen früh an. Du hast sie ja wahrscheinlich schon besichtigt. Lass mir besser mal die Telefonnummer des Besitzers da.«
Sie hatte seinen enttäuschten Blick bemerkt und wusste, dass er gehofft hatte, sie würden die Scheune gemeinsam besichtigen; aber er hatte nichts weiter gesagt, und sie war vom Tisch aufgestanden, hatte in der Küche herumgeklappert, die Reste des Abendessens abgeräumt und sich wütend und frustriert gefühlt. Ihr war bewusst, dass sie sich unvernünftig benahm und zu viel erwartete. Schließlich war Jules noch nie ein besonders sensibler Mann gewesen; er stand mit beiden Beinen im Leben, war pragmatisch und ziemlich zäh. Ganz anders als Nick zum Beispiel, der viel
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